#356 Missbrauch der Philosophie? Mereologischer Nihilismus und objektive Moral
January 14, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
Ich studiere derzeit in Sydney und bin dabei, meinen Abschluss in Philosophie und Biologie zu machen. Es wird Ihnen auf Ihrer Australienreise sicher aufgefallen sein, dass unser Australien viel stärker zur Säkularisation neigt als Ihr Heimatland, und obschon ich kein Christ bin, fällt mir immer wieder auf: Selbst unsere Professoren machen in ihren Vorlesungen keinen Hehl aus ihrer atheistischen Weltanschauung; immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich die „Autoritäten“ infrage stelle und dabei unbeabsichtigt in die theistische Ecke gerate. Ich habe mich daher entschlossen, erst einmal meine beiden Studiengänge zu beenden, und sollten meine theistischen Schlussfolgerungen auch dann noch die Oberhand haben, so werde ich wohl oder übel über die Wahrheiten der verschiedenen Religionen nachdenken müssen. Mal sehen, ob ich eine dieser Religionen ohne Verstandeszweifel beibehalten kann.
Gerade unlängst habe ich ein Gespräch mit einem Kommilitonen geführt. In einer Diskussion habe ich ein oder zwei Argumente zugunsten der Existenz objektiver Wertmaßstäbe ins Feld geführt und damit den moralischen Relativismus meines Kommilitonen widerlegt, den dieser so heftig vertritt. Statt sich aber auf meine Argumente einzulassen, hielt er mir folgende Gedanken entgegen, die mich stark an van Inwagen erinnern:
„Bevor ich über deine Argumente nachdenke, musst du zuerst beweisen, dass es so etwas wie ,Realität‘ überhaupt gibt.“
„Ich behaupte, selbst das Wissen um die objektive Existenz eines Tisches als solches ist im Grunde unsinnig, weil die Wahrnehmung ja auf den Sinnen beruht. Das Axiom T=T beruht doch auf der Annahme, wir könnten uns voll und ganz auf unsere Sinne verlassen. Das ist aber nicht schlüssig, und daher kann man Wahrnehmung auch nicht als objektives Wissen betrachten. Ich beziehe mich damit auf meine Auffassung vom Moralbegriff: Wenn wir uns schon nicht auf die objektive Existenz eines Tisches verständigen können, um wie viel weniger dann auf die Existenz einer objektiven Moral?“
„Du kannst also sagen, der mereologische Nihilismus sei hundertprozentig falsch? Und das kannst du auch noch angemessen beweisen? Wenn das so ist, dann freue ich mich auf deinen Beweis, wenn aber nicht, dann ignorierst du einfach neben vielen anderen Theorien auch dieses Problem, nur um deine eigenen Überzeugungen zu stärken.“
„Ohne Wissen haben wir auch keine Objektivität.“
Und zuletzt:
„Wieso sich mit deinen Voraussetzungen herumschlagen, wenn schon deine grundlegenden Überzeugungen unbewiesen sind?“
Wie Sie aus den Aussagen meines Kommilitonen erkennen können, sind wir von der Diskussion über die Objektivität der Moral seltsamerweise ganz schnell in einen Streit über eine gewisse Art des „mereologischen Nihilismus“ geraten, wenn ich mich nicht irre. Die Gültigkeit und Zuverlässigkeit meiner Argumente hat mein Kommilitone nicht einmal in Erwägung gezogen! Als dann aber sogar der Professor auf diesen Zug aufsprang und meinte, man müsse tatsächlich zunächst einmal die Argumente meines Kommilitonen prüfen und klären, da war ich völlig ratlos.
Ich finde es höchst lächerlich, als Basis für eine Diskussion über die Existenz einer objektiven Moral zuerst einmal einräumen zu sollen, dass Sie und ich, ja dass die ganze Welt, in der wir leben, überhaupt als „Zusammengesetztes“ existieren!
Daher habe ich an dieser Stelle zwei Fragen an Sie:
1) Muss ich mich wirklich auf eine Diskussion über den „mereologischen Nihilismus“ einlassen, bevor ich ein Argument zugunsten der Objektivität der Moral ins Feld führen kann?
2) Könnten Sie bitte kurz auf die Beteuerungen meines Kommilitonen (und meines Professors) eingehen, damit ich mich in Zukunft darauf beziehen kann?
Ich wäre wirklich froh und dankbar über jede Ihrer Antworten, denn die Sache bereitet mir gehörige Schwierigkeiten, allein schon deshalb, weil sie mir völlig absurd erscheint.
Mit freundlichen Grüßen,
Taylor
Australia
Prof. Craigs Antwort
A
Also irgendetwas muss mir hier entgehen! Was Ihr Freund und Ihr Professor vertreten, ist offensichtlich so verschroben, dass man sich fragt, wie einer so etwas glauben kann!
Für alle, denen Taylors Vorkenntnisse fehlen: Es dreht sich hier anscheinend um die Frage: Existieren zusammengesetzte Dinge an sich oder nicht? Oder anders gefragt: Gibt es wirklich Gegenstände wie Stühle, Tische und Menschen, oder gibt es nur allerkleinste Teilchen (wie Quarks), die „stuhlweise“, „tischweise“ usf. zusammengesetzt sind? Dies ist eine Frage aus dem Bereich der Ontologie, und es gibt tatsächlich manche Metaphysiker, die solche Fragen faszinierend finden und darüber nachts kein Auge zutun. Die Sichtweise, zusammengesetzte Dinge seien als eigenständige Entitäten inexistent, nennt man auch „mereologischen Nihilismus“. Taylors Kommilitone und auch sein Professor beharren anscheinend darauf, dass Taylor ohne Vorabklärung dieser Frage nicht auf der Existenz einer objektiven Moral beharren dürfe – eine höchst seltsame Forderung! Wären moralische Werte tatsächlich aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt, so könnte ich diese Forderung ja noch verstehen. Da man aber wirklich eine gehörige Macke haben muss, um zu glauben, moralische Werte seien zusammengesetzte materielle Dinge, ist ihre Forderung haltlos.
Der „mereologische Nihilismus“ hätte für die Existenz einer objektiv gültigen Moral, also für die Position eines moralischen Objektivismus, allenfalls dann Bedeutung, wenn jemand auf Grundlage eben jenes mereologischen Nihilismus ernsthaft behaupten wollte, der Mensch könne über keine objektive Moral verfügen, da es so etwas wie den „Menschen“ gar nicht gibt (da er ja etwas Zusammengesetztes wäre)! Somit könne es auch keinen Menschen geben, der für seine Handlungen verantwortlich ist. Ein solches Argument jedoch geht davon aus, dass der Mensch allein materieller Natur ist – das ist aber für einen Dualisten unannehmbar. Das Argument könnte man also nur einem Materialisten entgegenhalten. Der Materialist könnte sich aufgrund dieses Arguments jedoch gerade dazu angeregt fühlen, den mereologischen Nihilismus abzulehnen. Er könnte so denken: Ich weiß von mir selbst, dass ich für mein Handeln verantwortlich bin. Wäre der mereologische Nihilismus wahr, dann wäre ich aber kein verantwortlicher Mensch, und somit ist der mereologische Nihilismus falsch. Weit davon entfernt also, dass man zunächst die Frage des mereologischen Nihilsmus entscheiden müsste, liefert der moralische Objektivismus selbst gute Gründe, über den mereologischen Nihilismus seine Entscheidung zu fällen!
Wie dem auch sei: Die Argumentation Ihres Freundes scheint mir anders zu laufen. Ich kann an seinen Bemerkungen nichts sehen, was nahelegt, ein Vertreter des mereologischen Nihilismus könnte nicht konsistenterweise am moralischen Objektivismus festhalten. Ich gebe Ihnen ein gutes Gegenargument auf seine Behauptung, Sie müssen zuerst mit dem mereologischen Nihilismus ins Reine kommen, bevor Sie sich über den moralischen Objektivismus klar werden können:
1) Es gibt Leute, die am mereologischen Nihilismus festhalten, dabei aber völlig rational auch den moralischen Objektivismus vertreten (z. B. van Inwagen [1]).
2) Es gibt Leute, die den mereologischen Nihilismus ablehnen, aber am moralischen Objektivismus festhalten (z. B. Plantinga).
3) Wenn man den moralischen Objektivismus rational vertreten kann und dabei entweder für oder gegen den mereologischen Nihilismus sein kann, dann kann eine Vorentscheidung zur Frage des mereologischen Nihilismus keine Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des moralischen Objektivismus sein.
4) Es ist also nicht notwendig, im Hinblick auf den mereologischen Nihilismus eine Entscheidung zu fällen, bevor man vom moralischen Objektivismus überzeugt sein kann.
Solange sich Ihr Freund nicht die enorme Beweislast auf die eigenen Schultern hievt und zeigt, dass van Inwagen oder Plantinga irrational sind (viel Glück bei dem Versuch!), ist er gezwungen, zuzugeben, dass es im Hinblick auf die Frage: objektive Moral – ja oder nein? unwichtig ist, ob Sie den mereologischen Nihilismus vertreten oder nicht; es geht maximal darum, dass Sie im Hinblick auf diese Frage Farbe bekennen. Haben Sie das getan, dann können Sie auch in aller Ruhe den moralischen Objektivismus vertreten, ganz egal, auf welcher Seite Sie stehen. Wenn das sein Gedanke war, dann brauchen Sie ihm die Seite nur zu nennen, auf der Sie stehen, und welche das auch sei, Ihr Glaube an die Existenz objektiver moralischer Wertmaßstäbe ist damit völlig vereinbar!
Wie dem auch sei: Um vernünftigerweise moralischer Objektivist zu sein, weshalb sollten Sie da überhaupt eine Entscheidung für oder gegen den mereologischen Nihilismus treffen sollen? Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die philosophischen Rätsel, die uns die Vorstellung des „Zusammengesetzten“ aufgibt (Dinge wie Identität und Wesensveränderung), stellen sich nicht im Hinblick auf die Existenz moralischer Wertmaßstäbe. Was soll mich daran hindern, vernünftigerweise zu behaupten, Kindesmissbrauch sei objektiv gesehen falsch, wenn ich mich hinsichtlich dieser Fragen zum mereologischen Nihilismus zu keiner Meinung entschließen kann? Ihr Freund hat Ihnen hier eine Antwort zu liefern!
Taylor, wissen Sie, was ich glaube? Ihr Freund spielt den Skeptiker nur, damit er seinen moralischen Relativismus vertreten kann. Er sagt im Prinzip: Wenn Sie sich nicht einmal auf Ihre fünf Sinne verlassen können und somit auch nicht von der Existenz eines Tisches sprechen können, wie können Sie sich dann auf Ihren Moralsinn verlassen und behaupten, es gebe so etwas wie eine objektive Moral? Er missbraucht philosophische Debatten über den mereologischen Nihilismus, um seinen vorgeblichen Skeptizismus zu stützen. Ihr Freund glaubt fälschlicherweise, dass die Schwierigkeit bei der Entscheidung philosophischer Fragen wie jener zu den „Zusammengesetztheiten“ auf die Unzuverlässigkeit der Sinne zurückzuführen sei. Das zeigt aber nur, wie oberflächlich er die philosophischen Debatten über diese Fragen nur verstanden hat. Van Inwagen beispielsweise sagt ganz klar: Wenn er die Existenz eines Stuhles leugnet, so meint er damit nicht, Stühle seien nur Einbildung oder es stimme etwas nicht mit unseren fünf Sinnen! Seine Bedenken, ob Stühle eingebildete Objekte sind oder nicht, sind metaphysischer Natur und berühren nicht die Frage der Zuverlässigkeit der Wahrnehmung. Die Antwort auf die Frage: „Wenn wir uns schon nicht auf die objektive Existenz eines Tisches verständigen können, um wie viel weniger dann auf die Existenz einer objektiven Moral?“ lautet daher: Unsere Unfähigkeit, die Frage der Komposita positiv zu entscheiden, hat nichts mit der Verlässlichkeit unserer Sinne zu tun, sondern mit einem metaphysischen Problem, das sich in Debatten über die Existenz moralisch objektiver Wertmaßstäbe nicht stellt.
Beachten Sie den typischen Skeptikerfehler Ihres Freundes! Er setzt Wissen mit Gewissheit gleich: "Solange Du den mereologischen Nihilismus nicht zu 100% widerlegen kannst … ignorierst du einfach neben vielen anderen Theorien auch dieses Problem, nur um deine eigenen Überzeugungen zu stärken.“ Der Halbbildungs-Skeptizismus Ihres Freundes widerlegt sich selbst. Fragen Sie ihn doch einfach einmal: „Woher willst du wissen, dass ,die Wahrnehmung auf den Sinnen beruht'? Woher willst du wissen, dass der Satz der Identität (T=T), auf der Annahme [beruht], wir könnten uns voll und ganz auf unsere Sinne verlassen‘?“ Sagen Sie ihm doch: „Solange du nicht beweisen kannst, dass der moralische Objektivismus 100%ig falsch ist, … dann ignorierst Du einfach neben vielen anderen Theorien auch dieses Problem, nur um deine eigenen Überzeugungen zu stärken.“ Wiederholen Sie ihm gegenüber einfach seine eigenen Worte: „Wieso sich mit deinen Voraussetzungen herumschlagen, wenn schon deine grundlegenden Überzeugungen unbewiesen sind?“
Was Ihr Freund da treibt, ist nicht ernstgemeinte Philosophie, sondern amateurhafter Missbrauch der Philosophie.
(Übers.: I. Carobbio)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/abusing-philosophy
[1]
In gewisser Hinsicht ist Van Inwagen übrigens kein „mereologischer Nihilist“, denn er bestreitet nicht, dass belebte und zusammengesetzte Dinge wie Sie und ich existieren. Dies tut aber meinem Argument keinen Abbruch.
– William Lane Craig