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#359 Gab es moralische Pflichten, bevor es die Zehn Gebote gab?

#359 Gab es moralische Pflichten, bevor es die Zehn Gebote gab?

January 14, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich habe da eine Frage zur Objektivität der Moral. Ich leite eine christliche Jugendgruppe mit Schülern aus der Oberstufe. Oft greife ich dabei auf die Apologetik zurück, um ihnen zu zeigen, dass der Glaube an Gott und insbesondere das Christentum nicht nur die einzig wahre „Religion“ ist, sondern auch die beste Erklärung für den Ursprung des Universums.

Ich glaube fest daran, dass die Zurüstung von Teenagern in diesem Abschnitt ihres Lebens von entscheidender Bedeutung für die Grundlegung ihrer Überzeugungen ist und ihnen zur Vorbereitung auf die Universität und das Arbeitsleben auch die Gründe für ihren Glauben liefert.

Im Hinblick auf die Objektivität moralischer Werte jedoch habe ich ein Problem. Ich stimme zu, dass es ohne Gott keine objektive Moral geben kann, aber woher erhalten wir die Maßstäbe für diese Moral?

Hält man sich bei dieser Frage an die Quelle der Zehn Gebote, ist alles gut, außer im Hinblick auf die Tatsache, dass es in der Zeit von Adam bis Mose kein Moralgesetz gab. Ich erinnere mich außerdem, gelesen zu haben, dass zwischen Abraham und dem Erlass der Zehn Gebote noch einmal vierhundert Jahre verstrichen!

Das führt mich zur Frage: Woher wussten die Menschen von ihrer moralischen Pflicht vor dem Erlass der Gebote am Berg Sinai? Die Heilige Schrift sagt ja ganz klar, dass es auch vor den Zehn Geboten sittliche Verpflichtungen gab: Joseph lehnte den Beischlaf mit Potiphars Frau ab und sagte, es sei „eine Sünde gegen ihren Mann und gegen Gott“.

Es ist dies ja nicht ausschließlich ein „binnenchristliches“ Problem; ich habe diesen Einwand auch schon von Atheisten und Agnostikern gehört. Das einzige, was mir bisher dazu einfiel, war der Hinweis auf die Schriftstelle: „Gott hat sein Gesetz in unser Herz gelegt“, aber das geht mir schon zu sehr ins Theologische; der geistige Spagat, der hier für den Theismus als Grundlage moralischer Verpflichtungen entsteht, scheint mir doch zu groß zu sein.

Wie beantwortet der Christ diese Frage zur moralischen Pflicht im Hinblick auf jene, die vor Mose lebten?

Dank an dieser Stelle für Ihre Arbeit und Ihren Dienst! Es ist dies nicht nur für meinen persönlichen Glauben von Bedeutung, sondern auch für den Glauben der Schüler, die ich zuzurüsten habe.

Beste Grüße,

Tarick

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Zunächst herzlichen Dank dafür, Tarick, dass Sie sich für diese Oberstufenschüler einsetzen, damit diese ihren Glauben besser verstehen und verteidigen können! Was Sie tun, ist bewundernswert; darin sind Sie uns ein Vorbild! Mögen sich unsere Leser von Ihrem Beispiel inspirieren lassen, ihm folgen und in ihren Gemeinden ähnliche Gruppen anleiten!

Nur ungern komme ich immer wieder auf denselben Punkt zurück (vgl. Q&A 357 [1]), aber Ihre Frage scheint auf der alten Verwechslung zwischen Moralontologie und Moralepistemologie zu beruhen. Ich denke, den Unterschied zwischen diesen beiden Dingen im Auge zu behalten, ist für das Verständnis des Moralarguments unabdingbar. Es bedarf daher der Wiederholung: „Die Moralontologie hat mit der objektiven Wirklichkeit moralischer Werte und Pflichten zu tun, die Moralepistemologie fragt danach, wie wir von den moralischen Werten und Pflichten wissen können. Das Moralargument hat allein mit der Moralontologie zu tun und sagt nichts darüber aus, wie wir zu dem Wissen über diese moralischen Werten und Pflichten kommen können.“ Insbesondere sagt es nichts darüber aus, wie die Menschen von ihren moralischen Pflichten erfuhren, bevor sie die Zehn Gebote hörten.

Worin soll also der Einwand gegen das Moralargument bestehen? Sie fragen, woher wir die Maßstäbe für diese Moral erhalten? Als ontologische Frage verstanden, ist die Antwort, die ich verteidige, die Divine Command Theorie: Die moralischen Werte sind in Gottes Wesen verankert, während unsere moralischen Pflichten in Gottes Geboten gründen, die er uns gegeben hat. Beachte – diese Antwort ist nicht erkenntnistheoretischer Natur, sondern ontologischer Natur: Wir haben objektive Verpflichtungen und Verbote, weil uns Gott ganz bestimmte Gebote auferlegt hat. Wie man nun Kenntnis von Gottes moralischen Geboten erlangt, ist eine ganz andere Frage. Ohne die Imperative hätten wir keine moralischen Pflichten, aber das widerspricht nicht der Auffassung, wir könnten uns unserer moralischen Pflichten innewerden, ohne uns bewusst zu sein, dass Gott solche Gebote erlassen hat. Wird Ihre Frage erkenntnistheoretisch interpretiert, gibt es viele Wege, sich der eigenen moralischen Verpflichtungen gewahr zu werden.

Sie fragen sodann: „Wie beantwortet der Christ diese Frage zur moralischen Pflicht im Hinblick auf jene, die vor Mose lebten?“ Das ist eine erkenntnistheoretische Frage. Von größerer Bedeutung wäre die Frage, wie die Menschen vor dem Ereignis am Berg Sinai überhaupt moralische Pflichten haben konnten? Das wäre dann eine ontologische Frage. Eine Antwort auf diese Frage lautet: Die Zehn Gebote umfassten Gottes Moralgesetz für Israel, aber das war nicht das erste Mal, dass Gott solche Gebote gab. Oder sagen wir besser: die meisten dieser Gebote hatte Gott vorher schon gegeben; es gibt beispielsweise keinen Grund zu glauben, die Menschen hätten vor der Zeit, zu der Gott am Sinai seine Gebote gab, den Sabbat einhalten müssen. Was nun die erkenntnistheoretische Frage anlangt, so sagt uns – wie Sie selbst gesagt haben – die Heilige Schrift, wie Menschen, die keine Kenntnis der Zehn Gebote haben, dennoch um ihre moralische Verpflichtung wissen können. In seinem Brief an die Gemeinde in Rom sagt Paulus: „Wenn nämlich Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur aus tun, was das Gesetz verlangt, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, da sie ja beweisen, dass das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, was auch ihr Gewissen bezeugt, dazu ihre Überlegungen, die sich untereinander verklagen oder auch entschuldigen – an dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten wird nach meinem Evangelium“ (Röm 2,14-16). Nach Paulus’ Ansicht ist eine Kenntnis der Quelle der moralischen Pflichten für die eigenen moralischen Pflichten nicht vonnöten.

Dieser Antwort scheinen Sie Vorbehalte entgegenzubringen, da sie Ihnen „schon zu sehr ins Theologische [geht]; der geistige Spagat, der hier für den Theismus als Grundlage moralischer Verpflichtungen entsteht, scheint mir doch zu groß zu sein“. Moment mal! Ich habe oben ja schon gesagt, dass das Moralargument auf der Moralontologie basiert und unabhängig ist von Antworten auf erkenntnistheoretischen Fragen. Wenn Sie allerdings danach fragen, woher die Menschen von ihren moralischen Pflichten wussten, bevor sie von den Zehn Geboten erfuhren, so fragen Sie nach einer Sache, die die Heilige Schrift bereits angemessen beantwortet hat. Lassen Sie sich von der verstandesmäßigen Grenze derer, mit denen Sie es zu tun haben, nicht dazu treiben, von der schriftgemäßen Wahrheit abzugehen! Diese können es verstehen – wenn Sie es ihnen auf einfache Weise erklären.

(Übers.: I.Carobbio)

Link to the original Article in English: http://www.reasonablefaith.org/moral-duty-without-the-ten-commandments

[1]

Vgl. http://www.reasonablefaith.org/german/qa357

– William Lane Craig

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