#375 Frege’sche abstrakte Objekte und Gott
November 10, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
ich interessiere mich seit kurzem für Ihre Arbeit über abstrakte Objekte. Ich habe eine kurze Frage zu dem Frege’schen Argument für den mathematischen Platonismus. Das Argument kommt zu dem Schluss, dass mathematische Objekte existieren, weil sie mit singulären Termen bezeichnet werden. So ist z.B. der Satz „3 ist eine Primzahl“ ein wahrer, einfacher Satz, in welchem „3“ ein singulärer Term ist, der ein abstraktes Objekt bezeichnet.
Meine Frage: Bedeutet die Behauptung, dass abstrakte Objekte existieren, mehr, als dass sie mit singulären Termen bezeichnet werden können? Ich sehe das eigentlich nicht, weil sie keinerlei Auswirkungen auf die Welt haben. Wenn dem aber so ist, scheint es mir bei ihrer „Existenz“ mehr um die Funktion eines Wortes zu gehen als um irgendetwas, das mit Ontologie zu tun hat.
Danke.
Ander
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Erst heute Morgen, Ander, war ich dabei, mein Kapitel über den Neutralismus zu revidieren, aufgrund des Problems, das der Platonismus für die Lehre von der Aseität Gottes darstellt. Ich hoffe, dass der Durchschnittsleser es mir verzeiht, dass ich eine so spezifische Frage beantworte, die aber sehr genau zu meiner gegenwärtigen Forschungsarbeit passt.
Für alle, die Frege nicht kennen: Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848–1925) war ein deutscher Mathematiker mit einer ausgeprägten philosophischen Ader. Die Debatte über die Realität abstrakter Objekte wie Zahlen, Mengen und andere mathematische Objekte geht letztlich auf ihn zurück. Wie mein Kollege Paul Gould in seiner Einleitung zu dem Buch Beyond the Control of God? Six Views on the Problem of God and Abstract Objects (Bloomsbury, 2014) erklärt, ist dies eine Debatte, die für den Christen wichtig ist, da die Existenz solcher abstrakten Objekte sozusagen Gottes Position als die einzige höchste Realität und als Schöpfer von allem außer ihm selber infrage stellt.
Das Argument, das Frege für die Existenz solcher Objekte formulierte, ist bis heute das einflussreichste geblieben – nämlich dass unsere Fähigkeit, uns in Aussagen, die wir für wahr halten, auf solche Objekte zu beziehen, es erfordert, dass diese Objekte existieren.
Ein solches Argument sieht auf den ersten Blick nach einem absurden Versuch aus, aus bloßen Wörtern eine Metaphysik zu bauen. Sollen wir dann also auch behaupten, dass solche wahren Aussagen wie „Dein Mangel an Verständnis ist entmutigend“ oder „Der gegenwärtige Aufenthaltsort des Präsidenten ist nicht bekannt“ oder „Die Konferenz findet am Mittwoch statt“ uns zwingen, an die reale Existenz solcher Objekte wie „Mangel“, „Aufenthaltsort“ oder „Mittwoch“ zu glauben?
Aber wie Sie selber bemerken, Ander, hatte Frege eine sehr dünne Vorstellung von Existenz. Mit der Aussage, dass es Objekte gibt, die solchen Worten entsprechen, meinte er lediglich, dass es semantische Objekte für solche Worte gibt, d.h. die betreffenden Worte sind singuläre Terme, sie wählen ein bestimmtes Ding aus, über das man reden will. Sie treffen ins Schwarze, Ander, wenn Sie von solchen Objekten sagen, dass „es bei ihrer ‚Existenz‘ mehr um die Funktion eines Wortes zu gehen scheint als um irgendetwas, das mit Ontologie zu tun hat.“ Solche Objekte sind schlicht die Referenten singulärer Terme.
Es ist in der heutigen philosophischen Szene wichtig, zwischen dem sogenannten „schwachen“ und dem „starken“ Platonismus zu unterscheiden. Heutige Platonisten, die Frege treu bleiben, sind schwache Platonisten. Diese Art Platonismus scheint mir kein Problem für die göttliche Aseität darzustellen, weil er sich nicht, wie der strenge Platonismus dies tut, metaphysisch für die Realität abstrakter Objekte stark macht.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. John Burgess ist ein bekannter Platoniker, der die Existenz mathematischer Objekte behauptet. Aber existieren diese Objekte „wirklich“ oder sind sie nur die semantischen Referenten mathematischer Ausdrücke? Hören wir genau hin, was Burgess sagt:
„Ein sehr traditioneller Lösungsversuch der Frage der tatsächlichen metaphysischen Existenz von Zahlen besteht darin, aus der ontologischen Frage eine theologische zu machen: Ist es geschehen oder ist es nicht geschehen, dass Gott an einem der Schöpfungstage sagte: „Es werden Zahlen!“, und es wurden Zahlen und Gott sah, dass die Zahlen gut waren? Nach Dummett und Nietzsche (oder meinem Verständnis von Nietzsche) ist dies die einzige Möglichkeit, Fragen der ontologischen Metaphysik sinnvoll anzugehen. … Ich selber glaube, wie Russell, dass der analytische Atheismus [die These, dass die Sprache der Theologie sinnlos ist] falsch ist, und habe (anders als die Australier) den Verdacht, dass die Nietzsche-Dummett-These wahr ist. Wenn, wie ich glaube, die theologische Frage Sinn macht, und wenn, wie ich vermute, sie die einzige vernünftige Frage ist, die man über reale Existenz von Zahlen in einem starken Sinne von „real“ stellen kann, dann würde ich diese Frage negativ beantworten. Aber dann würde ich auch die Frage nach der realen Existenz in einem starken Sinne von „real“ von so ziemlich allem anderen negativ beantworten.“ [1]
Es ist deutlich, dass für Burgess eine theologische Perspektive – „die einzige Möglichkeit, Fragen der ontologischen Metaphysik sinnvoll anzugehen“ – zu einer klaren, negativen Antwort auf seine Frage über die metaphysische Existenz von Zahlen führt. Er wendet sich gegen „die reale Existenz von Zahlen in einem starken Sinne von ‚real‘“, zugunsten eines sehr viel schwächeren „Realismus“, der sich in der Bereitschaft erschöpft, „in seinen philosophischen Momenten das zu wiederholen, was man in seinen wissenschaftlichen Momenten sagt, und es nicht zurückzunehmen, wegzuerklären oder sich anderweitig dafür zu entschuldigen.“ [2] Dieser schwache Realismus erhebt nicht den Anspruch, uns zu sagen, „was Gott zu sich selber sagte, als er das Universum schuf.“ [3]
Wenn mathematische und andere abstrakte Objekte lediglich in dem Frege’schen Sinne von semantischen Objekten existieren, stellen sie keine Bedrohung für die Aseität Gottes dar. Und: Die strengen Platoniker müssen weiter die Ärmel hochkrempeln, um zu beweisen, dass solche Objekte wirklich existieren.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/fregean-abstract-objects-and-god
[1]
John P. Burgess, „Mathematics and Bleak House”, Philosophia Mathematica 12 (2004), S. 30f. Ich entnehme Burgess’ Worten, dass er wahrscheinlich auch die Existenz von zusammengesetzten physischen Objekten verneint.
[2]
Ebd., S. 19.
[3]
Ebd.
– William Lane Craig