#378 Notwendigkeit und das Kontingenzargument
November 01, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
zunächst einmal möchte ich Ihnen herzlich danken für all Ihre Arbeit. Sie ist mir in meinem Leben als Christ eine große Hilfe, und Gott hat Sie echt benutzt, um meinen Glauben zu stärken. Wir haben uns übrigens vor kurzem in Ihrem Defenders-Seminar getroffen, als ich in Atlanta war, an dem Wochenende, als Sie Ihre Kehlkopfentzündung hatten. Es war mir ein Vorrecht, Sie kurz sprechen zu können, und ich freue mich, dass es Ihnen wieder besser geht. Aber jetzt habe ich ein paar Fragen zu den Merkmalen der Notwendigkeit und der Aseität – vor allem, was ihre Beziehung zu dem Leibniz'schen Kosmologischen Argument betrifft. Ich finde Leibniz‘ Argument absolut zwingend, aber zu einem wesentlichen Aspekt davon hätte ich gern eine Klärung. In der Frage der Woche #190 [1] stellen Sie klar, dass Sie bei Ihrer Formulierung des Leibniz'schen Kosmologischen Arguments „Notwendigkeit“ und „Kontingenz“ nicht im weiteren logischen Sinne benutzen, sondern zur Bezeichnung von Wesenheiten, die aufgrund einer Notwendigkeit ihres eigenen Wesens existieren, bzw. solcher, die in ihrer Existenz von außerhalb von ihnen liegenden Ursachen abhängig sind. Nach dieser Analyse ist eine logisch notwendige Wesenheit dann kontingent, wenn sie in ihrer Existenz von einer anderen logisch notwendigen Wesenheit abhängig ist (wie im Absoluten Kreationismus oder Konzeptualismus bezüglich abstrakter Objekte [2]). Aber was für eine Seinsmodalität soll das sein? Bei meiner Durchsicht von Arbeiten zum Thema „Modalität“ habe ich keinen Ausdruck für diese Art Modalität gefunden. In Ihrem Buch Philosophical Foundations for a Christian Worldview leiten Sie diese Definition von notwendigen und kontingenten Dingen oder Wesenheiten mit der Formulierung „nach dieser Analyse“ ein. Soll dies bedeuten, dass die Benutzung der Worte „notwendig“ und „kontingent“ dort in einem Sinn erfolgt, der nur für dieses Argument gilt?
Weiter fallen mir in dem Argument mehrere Stellen auf, wo die Begriffe „Kontingenz“ und „Notwendigkeit“ doch in dem weiteren logischen Sinn benutzt zu werden scheinen und nicht in dem im Argument definierten Sinn. Ein Beispiel dafür ist die Stelle, wo Sie auf den Einwand von Bede Rundle eingehen, dass zwar keine Wesenheiten notwendig existieren, aber dass es notwendig ist, dass irgendeine kontingente Wesenheit existiert. Sie führen aus, dass dies einer Leugnung des Prinzips des zureichenden Grundes gleichkommt und die Existenz von nicht weiter erklärbaren rein kontingenten Wesenheiten in jeder möglichen Welt postuliert. Hier scheinen Sie mir „Notwendigkeit“ und „Kontingenz“ im weiteren logischen Sinne zu benutzen und nicht in dem anderen, oben beschriebenen. Desweiteren appellieren Sie bei Ihrer Diskussion der Kontingenz des Universums an unsere Vorstellung einer möglichen Welt ohne konkrete Objekte und einer möglichen Welt, in welcher andere Elementarteilchen existieren, um so die Kontingenz des Universums nachzuweisen. Auch hier scheinen Sie mir Modalität in einem logischen Sinne zu benutzen, weil Sie Kontingenz offenbar mit der Existenz in einigen, aber nicht allen möglichen Welten identifizieren und nicht einfach mit der Abhängigkeit von äußeren Ursachen. Zweifellos ist eine logisch kontingente Wesenheit kontingent in dem von dem Argument beschriebenen Sinn, aber werden diese Ausdrücke in dem gesamten Argument einheitlich benutzt?
Beim Nachdenken über Ihre Schriften über die Aseität Gottes fiel mir andererseits auf, dass die Arten von Wesenheiten, die Sie in Ihrer Version des Leibniz'schen Kosmologischen Arguments beschreiben, dem Begriff von Wesenheiten, die a se existieren, und solchen, die ab alio existieren, sehr nahe kommen. Wenn ich Aseität richtig verstehe, ist sie die Eigenschaft der Selbstexistenz und der Unabhängigkeit von anderen externen Wesenheiten oder Ursachen. Das klingt mir sehr nach etwas, das aufgrund einer Notwendigkeit in seinem eigenen Wesen existiert. In Ihrem Artikel „Timothy O’Connor on Contingency: A Review on Theism and Ultimate Explanation: The Necessary Shape of Contingency” schreiben Sie: „Wir sollten hier nicht vergessen, dass, wenn O’Connor von einer notwendigen Wesenheit spricht, er eine meint, die nicht nur notwendig, sondern a se existiert (S. 155, Anm. 7), sodass Wesenheiten, die ab alio notwendig [3] sind, nicht in den Blick kommen.“ Soll dies bedeuten, dass die notwendigen Wesenheiten Ihrer Version des Argumentes mit Wesenheiten gleichzusetzen sind, die a se logisch notwendig sind, und dass kontingente Wesenheiten sowohl logisch kontingente Wesenheiten sein können (die ab alio existieren) als auch logisch notwendige Wesenheiten (die aber ab alio logisch notwendig sind), oder verstehe ich die Begrifflichkeit hier falsch? Und wenn dies der Fall ist: Glauben Sie, dass das Argument dann nicht umformuliert werden müsste – entweder in Richtung Aseität oder in Richtung auf eine im weiteren Sinne logische Modalität, die dadurch genauer bestimmt wird, ob die Wesenheit a se oder ab alio existiert?
Danke im Voraus , dass Sie auf meine Frage eingehen, und Gott segne Sie!
Matt
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Danke für diese höchst intelligente Frage, Matt! Es freut mich, dass Sie zu unserem Defenders-Seminar kommen konnten.
Für alle, die Ihr Hintergrundwissen nicht haben, möchte ich hier das Leibniz'sche Kosmologische Argument vorstellen:
Prämisse 1: Für alles, was existiert, gibt es eine Erklärung seiner Existenz (die entweder in der Notwendigkeit seines eigenen Wesens liegt oder in einer äußeren Ursache).
Prämisse 2: Wenn es für die Existenz des Universums eine Erklärung gibt, dann ist diese Erklärung Gott.
Prämisse 3: Das Universum existiert.
Konklusion 1: Folglich gibt es für die Existenz des Universums eine Erklärung.
Konklusion 2: Folglich ist die Erklärung für die Existenz des Universums Gott.
Wie Sie, finde auch ich dies ein sehr starkes Argument.
In Ihrer Frage nun geht es um die Rolle von Notwendigkeit und Aseität in diesem Argument. Wie Sie völlig richtig bemerken, würde etwas, was in jeder im weiteren Sinne logisch möglichen Welt existiert, notwendig existieren, aber wenn es eine Ursache hat, dann existiert es nicht notwendig aufgrund seines eigenen Wesens, sondern es existiert paradoxerweise notwendig, aber gleichzeitig kontingent. Ich sage „paradoxerweise“, weil es hier keinen Widerspruch gibt. In diesem Kontext bedeutet „kontingent“ „abhängig“. Absolute Kreationisten bezüglich abstrakter Objekte würden z.B. sagen, dass mathematische Objekte so existieren: Sie sind von Gott in jeder möglichen Welt erschaffen und existieren mithin notwendig, obwohl sie in ihrer Existenz von Gott abhängig sind. Sie existieren notwendig, aber sie existieren nicht aus sich selber.
Ihre erste Frage betrifft die Art der Seinsmodalität, um die es hier geht. Diese Unterscheidung zwischen notwendiger Existenz und Existenz aus sich selber ergibt sich gewöhnlich in einem theistischen Kontext, und andere Theisten haben sie bereits kommentiert. Es gibt keine Standardterminologie für diese Art Modalität, aber interessanterweise haben mittelalterliche Denker wie Thomas von Aquin unterschieden zwischen etwas, das „in sich selber notwendig“ ist (per se necessarium), und etwas, das „eine Ursache seiner Notwendigkeit in etwas anderem“ hat (causam suae necessitatis aliunde) (Summa theologica 1.2.3). Die heutige modale Metaphysik benötigt solche Kategorien – nicht nur, um diesem Argument gerecht zu werden, sondern auch, wie die Fälle des absoluten Kreationismus und des Konzeptualismus illustrieren, um den Feinheiten der modalen Metaphysik gerecht zu werden.
Wenn Sie jetzt bedenken, dass die Notwendigkeit per se (um die Terminologie von Thomas von Aquin zu benutzen) die Notwendigkeit im herkömmlichen Sinne beinhaltet, dann sehen Sie, dass dann, wenn eine Wesenheit keine Notwendigkeit besitzt, sie automatisch auch keine Notwendigkeit per se besitzt. Wenn also Bede Rundle behauptet, dass es in jeder möglichen Welt kontingente Wesenheiten gibt, aber keine notwendigen Wesenheiten, benutzt er die Ausdrücke „notwendig“ und „kontingent“ in ihrer üblichen Bedeutung, und es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass es in dieser seiner Sicht keine Erklärung dafür gibt, warum diese kontingenten Wesenheiten existieren.
Ähnlich gilt: Wenn ich zeigen kann, dass das Universum noch nicht einmal notwendig existiert, dann existiert es automatisch auch nicht notwendig per se. Anders ausgedrückt: Wenn ich zeigen kann, dass das Universum in einem weiteren logischen Sinne kontingent existiert, dann existiert es ganz sicher nicht notwendig per se.
Ich stimme Ihnen voll und ganz zu, dass die Unterscheidung, die wir hier zu machen versuchen, synonym ist mit der Unterscheidung zwischen der Existenz a se (in oder durch sich selber) von etwas und seiner Existenz ab alio (durch etwas anderes). (Wieder können wir den Philosophen des Mittelalters für diese Terminologie danken.) Sie liegen also völlig richtig, wenn Sie eine Wesenheit, die durch eine Notwendigkeit in ihrem eigenen Wesen existiert, gleichsetzen mit einer Wesenheit, die die Eigenschaft der Aseität hat – was zufällig das Thema meiner gegenwärtigen Forschungen ist. Sie haben also recht, wenn Sie sagen, dass die Prämisse 1 des Leibnizschen Argumentes zwischen zwei Arten von Wesenheiten unterscheidet: denen, die in sich selber existieren (ihre Existenz a se haben), und denen, die aufgrund von etwas anderem (ab alio) existieren. Die Dinge, die ab alio existieren, können ferner in einem weiteren logischen Sinne kontingent existieren (also in nur einigen möglichen Welten) oder im weiteren logischen Sinne notwendig (in allen möglichen Welten) existieren:
I. Existenz a se
II. Existenz ab alio
A. Im weiteren logischen Sinne kontingente Existenz
B. Im weiteren logischen Sinne notwendige Existenz
Zu ihrer Frage: Glaube ich, dass das Argument umformuliert werden müsste – entweder in Richtung Aseität oder in Richtung auf eine im weiteren Sinne logische Modalität, die dadurch genauer bestimmt wird, ob die Wesenheit a se oder ab alio existiert? Nein. Das Argument ist schon so schwerverständlich genug, und mit der neuen Terminologie würde es nur noch verwirrender. Solche genaueren Unterscheidungen für Kenner behandelt man besser in einer Frage der Woche!
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/necessity-and-the-argument-from-contingency
[1]
Q&A 190: "The Leibnizian Cosmological Argument", engl. Original: http://www.reasonablefaith.org/the-leibnizian-cosmological-argument, deutsche Übersetzung: http://www.reasonablefaith.org/german/qa190
[2]
Der "Absolute Kreationismus" bezüglich abstrakter Objekte sagt, dass Gott auch abstrakte Objekte (z.B. Zahlen, Propositionen etc.) geschaffen hat. D.h. die Worte "alle Dinge" in Joh. 1,3 ("Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist") umfassen auch die abstrakten Objekte. (Anm. d. Übers.)
[3]
Ein "ab alio notwendig" existierendes Wesen hat seine notwendige Existenz von einem anderen Wesen; es existiert zwar notwendig (in jeder möglichen Welt), aber seine Existenz ist eine Folge der Existenz eines anderen – ebenfalls notwendig existierenden – Wesens. So könnten z.B. Zahlen notwendig existieren, d.h. in jeder möglichen Welt, aber ihre Existenz könnte von Gott abhängen, der selber wiederum in seiner Existenz von nichts anderem abhängt (also "a se notwendig" existiert). (Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig