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#381 Unwiderlegbarkeit und Offenheit für Indizien

#381 Unwiderlegbarkeit und Offenheit für Indizien

November 10, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich bin ein großer Fan von Ihnen. Ich lebe in Ghana, einem überwiegend religiösen Land, wo der Säkularismus und Humanismus nicht sehr präsent ist, aber Ihre Arbeit hat meinen Glauben gestärkt und mir in meinen (überwiegend im Internet stattfindenden) Begegnungen mit Nichtchristen sehr geholfen. Und in dem Maße, wie auch bei uns der Säkularismus allmählich an Boden gewinnt, dürfte Ihre Arbeit vielen Christen hier helfen, für ihren Glauben einzustehen.

Ich habe gelesen und mir angehört, was Sie über die Reformierte Erkenntnistheorie zu sagen haben, über die Fundierung des christlichen Glaubens in berechtigterweise basalen, vom Heiligen Geist bezeugten Überzeugungen, über die Unterscheidung zwischen dem Wissen, dass mein Glaube wahr ist, und der Fähigkeit, diese Wahrheit anderen argumentativ klar zu machen usw. Nun sagen Sie (insbesondere in Ihrem neulichen Podcast „The Problem with Christian Apologetics“), dass dann, wenn der Christ auf ein neues, besonders geschicktes Argument gegen seinen Glauben stößt, er in aller Ruhe nach einer guten Widerlegung dieses Arguments suchen kann; er weiß ja die ganze Zeit über, dass sein Glaube wahr ist, weil Gott ihm dies bezeugt. Die noch nicht beantworteten Argumente gegen den Glauben sollten uns nie abbringen von der Stimme des Heiligen Geistes, der uns die Wahrheit des Glaubens bezeugt.

Meine Frage: Ist das nicht eine Argumentation, die davon ausgeht, dass das Ergebnis bereits feststeht und man nur noch die richtige Begründung braucht? Wird nicht der Wunsch, die eigene Argumentation zu stärken, dazu führen, die Fakten so zu deuten, dass sie zu der Schlussfolgerung, zu der man bereits gekommen ist, passen? Sie sind doch der Meinung, dass wir dahin gehen sollten, wohin die Indizien uns führen – aber wie können wir das machen, wenn wir die Schlussfolgerung bereits haben, die wir jetzt nur noch verteidigen müssen? Ich würde gerne hören, wie Sie darüber denken.

Danke, Sir.

Ishmael

Ghana

Prof. Craigs Antwort

A

Es ist wunderbar, Ihren Brief zu erhalten, Ishmael! Es ist ermutigend, zu hören, dass es in Ghana Menschen gibt, die „Reasonable Faith“ hilfreich finden.

Es ist eine gute Frage, die Sie mir da stellen, denn die Reformierte Erkenntnistheorie wird oft missverstanden. Die Freidenker-Subkultur, aus der ein Großteil des heutigen Populäratheismus stammt, hat eine Schlagseite zur klassischen Letztbegründungstheorie (engl. foundationalism [1]), für die nur Glaubensinhalte, die selbstevident, unkorrigierbar oder vielleicht noch evident für die Sinne sind, als berechtigterweise basal oder grundlegend geglaubt werden können; alle anderen müssen sich durch Argumente aus diesen basalen Inhalten ableiten lassen, um rational zu sein.

Was der Populäratheismus nicht weiß, ist, dass die klassische Letztbegründungstheorie erkenntnistheoretisch bankrott ist. Sie würde, würden wir ihr folgen, uns alle zum Skeptizismus oder zur Irrationalität verdammen, da vieles von dem, was wir glauben (wie die Realität der Vergangenheit, die Existenz der Außenwelt etc.), nicht auf diese Weise begründet werden kann. Die klassische Letztbegründungstheorie ist außerdem selbstwiderlegend, da sie selber nicht selbstevident, unkorrigierbar oder für die Sinne evident ist und auch nicht durch Argumente aus Überzeugungen, die diese Eigenschaften haben, abgeleitet werden kann. Wir müssen es laut und deutlich sagen, dass die klassische Letztbegründungstheorie mausetot ist und dass wir alle völlig rational Glaubensinhalte akzeptieren, die nicht durch Argumente begründet werden können und nicht die engen Kriterien der Letztbegründungstheoretiker für berechtigte Basalität erfüllen.

Es ist das Verdienst reformierter Erkenntnistheoretiker wie Alvin Plantinga, gefragt zu haben, warum zu den berechtigterweise basalen Glaubensinhalten, die wir rational akzeptieren, nicht auch der Glaube an Gott gehören kann. In seinem Buch Warranted Christian Belief (Oxford University Press, 2000; deutsch: Gewährleisteter christlicher Glaube, de Gruyter, 2015) argumentiert Plantinga (wie ich finde: überzeugend), dass es, sofern nicht nachgewiesen werden kann, dass der christliche Glaube falsch ist, keinen vernünftigen Einwand gegen die Behauptung gibt, dass wir die großen Wahrheiten des Evangeliums bzw. des christlichen Glaubens durch das Zeugnis von Gottes Heiligem Geist erkennen können. Denn wenn der christliche Glaube wahr ist, spricht nichts dagegen, dass Gott seinen Kindern die Erkenntnis der großen Wahrheiten des Evangeliums auf diesem Wege gewähren kann. Ein liebender Gott würde seine Menschen ganz sicher nicht der Gemengelage der Argumentationen, Indizien und Beweise aussetzen, die ja auch davon abhängen, an welchem Ort und in welcher Zeit der Betreffende lebt und was ihm an Bildung und Möglichkeiten, sich damit zu beschäftigen, offensteht. Indem sie das Zeugnis des Geistes Gottes als Möglichkeit, die Wahrheiten des christlichen Glaubens zu erkennen, ablehnen, gehen die freidenkerischen Atheisten und Agnostiker von vornherein von etwas aus, was erst noch zu beweisen wäre, nämlich dass der christliche Glaube falsch ist.

Ich glaube, die beste Lösung sieht so aus: Wir haben zwei voneinander unabhängige Quellen des Nachweises der Richtigkeit unseres Glaubens, wobei die eine der anderen weit überlegen ist. Die erste Quelle besteht aus den Argumenten und Fakten bzw. Beweisen, die die Wahrheitsansprüche des christlichen Glaubens stützen, die zweite ist das Zeugnis des Geistes Gottes. Unser christlicher Glaube hat also gleichsam ein doppeltes Qualitätssiegel, und ein Christ, der in seiner konkreten Situation (z.B. in einem Arbeitslager in Nordkorea) keinen Zugang zu den Argumenten und Beweisen hat, hat immer noch die innere Gewissheit, die der Heilige Geist ihm schenkt.

Wir erleben oft Situationen, in denen wir für das, was wir glauben, solch einen doppelten Nachweis haben. Nehmen wir z.B. unsere Erinnerungen. Jemand fragt Sie, woher Sie wissen, was Sie zum Frühstück gegessen haben. Sie können ihm Beweise und Indizien liefern: ihre Essgewohnheiten, die Reste auf den Tellern in der Spüle und die Zeugenaussagen von Familienmitgliedern, die gesehen haben, was Sie zum Frühstück gegessen haben. Aber selbst wenn es diese Indizien nicht gäbe (und Sie mithin Ihrem Gegenüber nichts beweisen könnten), hätten Sie immer noch den Nachweis Ihrer eigenen Erinnerung an Ihr Frühstück. Ihr Erinnerungsglaube beruht auf keinerlei Beweisen und Indizien, so überzeugend diese auch sein mögen, sondern er ist ein berechtigterweise basaler Glaube. Sie haben zwei voneinander unabhängige Bestätigungsquellen für Ihren Glauben.

Ishmael, würden Sie sagen wollen, dass jemand voreingenommen ist, weil er ohne äußere Beweise seinen Erinnerungsglauben akzeptiert, dass er zum Frühstück ein Ei gegessen hat? Natürlich nicht! Er hat eine Rechtfertigung für seinen Glauben, dass er zum Frühstück ein Ei gegessen hat. Wie Plantinga betont, gehören berechtigterweise basale Glaubensinhalte genauso zu unseren Verstandesäußerungen wie abgeleitete Glaubensinhalte. (Wenn wir natürlich den Begriff „Beweis“ bzw. „Evidenz“ so weit fassen, dass er auch Gedächtnisinhalte umfasst, dann wird Plantinga sagen, dass das Zeugnis des Geistes in diesem weiteren Sinne ebenfalls ein Stück Beweis ist; aber so benutzen reformierte Erkenntnistheoretiker den Ausdruck typischerweise nicht.)

Beachten Sie bitte, dass das, was wir durch das Zeugnis des Heiligen Geistes wissen, nicht die Details der christlichen Glaubenslehre sind und schon gar nicht die Argumente der natürlichen Theologie und christlichen Apologetik! Die Stimmen, die behaupten, dass es ein nichtabgeleitetes Wissen über Gott gibt, repräsentieren ein breites Spektrum an Meinungen zum Thema natürliche Theologie und Beweise für den christlichen Glauben. Einige, wie Plantinga, vertreten eine starke natürliche Theologie (obwohl Plantinga Beweisen für den Glauben skeptisch gegenübersteht). Andere, wie Karl Barth oder Paul Moser, haben nichts für natürliche Theologie übrig, ja betrachten sie als geradezu schädlich für eine heilbringende Gotteserkenntnis. Tatsache ist, dass die Vertreter der Reformierten Erkenntnistheorie sich, was theistische Argumente und Beweisen für den christlichen Glauben betrifft, in keine Schublade einordnen lassen.

Und warum sollten sie auch? Da sie der Meinung sind, dass ein nichtabgeleitetes Wissen über die großen Wahrheiten des Evangeliums allen Argumenten und Indizienbeweisen überlegen ist, können sie sogar objektiver sein als die Evidentialisten, deren Glaube (oder Unglaube!) mit diesen Argumenten steht und fällt. Bei mir selber brauchte es eine Dissertation über dieses Thema, bevor ich zu dem Ergebnis kam, dass das kosmologische Kalām-Argument gültig ist, und erst viele Jahre danach kam ich durch die Arbeit von Stephen Davis zu der Überzeugung, dass es möglich ist, eine solide und überzeugende Version des kosmologischen Gottesbeweises von Leibniz zu formulieren. Erst in jüngerer Zeit habe ich meine Meinung über den Wert des ontologischen Argumentes geändert. Dagegen kann der konzeptualistische Gottesbeweis von Quentin Smith [2], so sympathisch er mir auch ist, mich nach wie vor nicht überzeugen. Da aber der Nachweis meines Glaubens unabhängig von diesen Argumenten ist, kann ich objektiver sein als der atheistische Freidenker, dessen Welt zusammenbricht, wenn auch nur eines dieser Argumente sich als gültig erweist.

Aber jetzt habe ich Ihre Frage immer noch nicht beantwortet. Ihnen geht es um meine Behauptung, dass das Zeugnis des Geistes Gottes unwiderlegbar ist – also das, was Plantinga eine intrinsische Widerlegung jedes Widerlegungsversuches nennt. Diese Behauptung ist kein obligatorisches Merkmal der Reformierten Erkenntnistheorie, und ich weiß nicht, wie viele reformierte Erkenntnistheoretiker sie unterschreiben würden, aber sie erscheint mir vollkommen vernünftig. Es ist für mich undenkbar, dass unser uns liebender himmlischer Vater auch nur eines seiner Kinder in einer Situation, wo diese Person in Gefahr stünde, in ihrem Denken vom Glauben abzufallen, im Stich lassen würde. Ich glaube, dass Gott in solch einer Situation noch stärker die Wahrheit des Evangeliums durch seinen Geist bezeugen würde, sodass dieser Christ trotz der scheinbar unwiderlegbaren Argumente, denen er sich gegenübersieht, rational seines Glaubens vergewissert bliebe.

Nein, ich glaube nicht (und habe dies auch nie behauptet), dass wir immer „dahin gehen sollten, wohin die Indizien uns führen.“ Die Evidenzlage ist veränderlich und führt uns in einer gegebenen Situation womöglich nicht zur Wahrheit. Plantinga illustriert dies mit dem Beispiel eines Mannes, der eines Verbrechens angeklagt wird, das er nicht begangen hat. Er weiß, dass er unschuldig ist. Selbst wenn so viele Indizien gegen ihn sprechen, dass ein Geschworenengericht ihn für schuldig befindet – ist dieser Mann verpflichtet, dahin zu gehen, wohin die Indizien führen? Selbstverständlich nicht! Es gibt ganz offensichtlich Situationen, wo die Indizien eine falsche Schlussfolgerung nahelegen, und wenn wir über einen genügend starken, von den Indizien unabhängigen Nachweis der Wahrheit verfügen, sollten wir den Indizien eben nicht dahin folgen, wohin sie uns (ver)führen. (Vielleicht sollte man für solch eine Situation eine zugkräftige Bezeichnung erfinden, z.B. Shawshank Redemption-Ausnahme, nach dem Film The Shawshank Redemption [deutsch: Die Verurteilten]).

Sie fragen: „Ist das nicht eine Argumentation, die davon ausgeht, dass das Ergebnis bereits feststeht und man nur noch die richtige Begründung braucht?“ Nun, wenn Sie mit „Ergebnis“ nicht die Argumente der natürlichen Theologie und die Beweise für den christlichen Glauben meinen, sondern die großen Wahrheiten des Evangeliums, dann ist das in der Tat meine Position. Aber beachten Sie bitte, dass das „davon ausgeht“ nicht eine bloße Vermutung meint, sondern eine absolute Gewissheit! Es sind die Freidenker, die immer meinen, dass es sich hier um bloße Vermutungen und fromme Wünsche handele. Gerade so, wie der zu Unrecht angeklagte Mann versuchen wird, nachzuweisen, warum der Indizienbeweis, der da gegen ihn geführt wird, hinkt, so handeln Christen vollkommen rational, wenn sie nach den Schwachstellen und Fehlern in den gegen die Wahrheit des christlichen Glaubens vorgebrachten Argumenten suchen.

Sie fragen schließlich: „Wird nicht der Wunsch, die eigene Argumentation zu stärken, dazu führen, die Fakten so zu deuten, dass sie zu der Schlussfolgerung, zu der man bereits gekommen ist, passen?“ Einen Augenblick, bitte, dass wir nicht durcheinanderkommen! Wir reden hier nicht von der apologetischen Argumentation für die Wahrheit des christlichen Glaubens. Wie wir bereits sahen, gibt es unter den reformierten Erkenntnistheoretikern ganz unterschiedliche Meinungen, ob eine solche Argumentation überhaupt legitim ist. Ein nichtableitbares Wissen über Gott muss mitnichten die apologetische Argumentation stärken; oft schwächt es sie sogar, weil es sie schlicht überflüssig macht. Es stimmt also nicht, dass jemand, der behauptet, ein nichtableitbares Wissen über Gott zu haben, damit automatisch seine apologetische Position stärkt.

Worum es hier geht, ist vielmehr die Frage, ob die Behauptung, dass das Zeugnis des Geistes Gottes unwiderlegbar ist, uns erkenntnistheoretisch aufs Glatteis führt. Wenn dies der Fall ist, verzichte ich gerne auf diese Behauptung, die schließlich für die Reformierte Erkenntnistheorie, geschweige denn für den christlichen Glauben kein Muss ist. Aber ich sehe nicht, dass Sie bisher irgendwelche erkenntnistheoretischen Verstöße aufgedeckt hätten.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/indefeasibility-and-openness-to-evidence

[1]

Dt. auch Fundationalismus oder erkenntnistheoretischer Fundamentalismus (Anm. d. Übers.)

[2]

Vgl. Quentin Smith: The Conceptualist Argument for God's Existence, in: Faith and Philosophy, Januar 1994 (Vol. 11), S. 38-49, https://appearedtoblogly.files.wordpress.com/2011/05/smith-quentin-22the-conceptualist-argument-for-gods-existence22.pdf (Anm. d. Übers.)

– William Lane Craig

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