#394 Wie passen Anti-Realismus und die Existenz objektiver Wahrheit zusammen?
November 10, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
ich habe mir einen älteren Podcast von Ihnen angehört, in welchem Sie sagten, dass man Sachverhalte behaupten kann, ohne gleichzeitig den Wahrheitsstatus der bei dieser Behauptung benutzten Proposition [1] behaupten zu müssen.
Aber wenn wir (um zu vermeiden, dass Propositionen oder „Wahrheit“ zu real existierenden Dingen werden) die Realität des Wahrheitsstatus leugnen, wie kann man dann noch sagen, dass es Sätze gibt, die selbstwiderlegend sind? Wie könnte man z.B., wenn ich sage: „Es gibt keine wahren Behauptungen“, zeigen, dass dies ein sich selbst widerlegender Satz ist, ohne auf den Wahrheitsstatus dessen, was da behauptet wird, einzugehen?
Es fällt mir ein bisschen schwer, Ihr Bemühen, ein semantisches Reden über „Wahrheit“ zu vermeiden, zu verstehen. Ich sehe in diesem Bemühen einfach einen Versuch, Ihren Nominalismus zu unterfüttern. Ich halte es für vollkommen vernünftig, wenn wir versuchen, die Dinge so zu sehen, dass es mit dem, was wir glauben, übereinstimmt (das tun wir ja alle), aber mir scheint, dass Sie bei Ihrem Bemühen, am Nominalismus festzuhalten, gar zu viel aufgeben müssen – vor allem als Christ, der doch solche biblischen Begriffe wie „Wahrheit“, die Jesus selber betonte, hochzuhalten hat.
Ich finde Ihre Sicht, dass z.B. Eigenschaften keine existierenden Objekte sind, durchaus attraktiv, da man so den unendlichen Regress vermeidet, der mit einem Eigenschaftsrealismus untrennbar verbunden wäre [2]. Diesem Vorteil zum Trotz finde ich nach wie vor eine konzeptualistische Sicht von Abstraktionen intuitiv viel einleuchtender, sodass ich weiter nach einer ontologischen Sicht bzw. nach einem Existenzkriterium suche, das an der Existenz abstrakter Objekte festhält und gleichzeitig einen unendlichen Regress vermeidet.
Danke für Ihre Arbeit und für alles, was Sie für die Sache Christi tun.
Gott segne Sie!
Frank
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Langsam, Frank! Ich habe den Eindruck, dass Sie mich missverstanden haben. Bitte schauen Sie sich meinen Artikel „Propositional Truth: Who Needs It?“ (zuerst erschienen in: Philosophia Christi 15 (2013), S. 355–364) an, der meine Position genauer ausführt.
Sie haben völlig Recht mit Ihrer Annahme, dass mein Antirealismus bezüglich abstrakter Objekte (einschließlich Propositionen) theologisch motiviert ist. Als christlicher Philosoph folge ich Alvin Plantinga, der in seinem Artikel „Ratschläge für christliche Philosophen“ [3] dazu rät, über die philosophischen Fragen, vor denen wir stehen, integrativ zu denken. Wir sollten die Welt aus der Perspektive dessen betrachten, was wir über Gott wissen und was er uns geoffenbart hat. Ich finde daher, dass theologische Einwände gegen eine Sichtweise genauso wichtig, ja manchmal wichtiger sind als die philosophischen Einwände.
Wenn ich der Meinung wäre, dass die Lehren Jesu über die Wahrheit von uns verlangen, Propositionen oder Eigenschaften als Realitäten zu betrachten, würde ich das sehr ernst nehmen. Aber als Jesus z.B. sagte: „Ich bin die Wahrheit“, meinte er das nicht philosophisch, sondern bildlich. Er hat sich ganz offensichtlich nicht für eine propositionale Eigenschaft oder einen Wahrheitswert gehalten!
Die jüdisch-christlichen Lehren von der Aseität Gottes und der Erschaffung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) verlangen dagegen von uns, dass wir davon ausgehen, dass Gott die einzige letztliche Realität ist und dass es außer Gott selber nichts Unerschaffenes gibt. Was in Bezug auf solche Dinge wie Propositionen, Eigenschaften, Zahlen, mögliche Welten etc. die Position des Platonismus ausschließt.
In meinem oben erwähnten Artikel erkläre ich, dass eine antirealistische Position bezüglich solcher Entitäten uns nicht davon abhalten muss, so zu reden, als ob sie real existierten. Der Philosoph Rudolph Carnap hat eine nützliche Unterscheidung getroffen zwischen Behauptungen, die innerhalb eines sprachlichen Rahmens erfolgen, und Behauptungen außerhalb dieses Rahmens. Nehmen wir z.B. an, ich wähle den sprachlichen Rahmen des Redens über Eigenschaften. Innerhalb dieses Rahmens aufgestellte Behauptungen, wie z.B. „Der Hund hat die Eigenschaft der Bräune“ oder „John hat die Eigenschaft, an der University of Notre Dame zu studieren“, sind nicht zu beanstanden. Solch ein Reden über Eigenschaften ist sehr praktisch und erspart umständliche Umschreibungen, die notwendig werden können, wenn man dieses Reden vermeiden will, aber es muss nicht bedeuten, dass man sich ontologisch auf die Realität von Eigenschaften festlegt.
Die Frage, ob Eigenschaften real existieren, ist eine externe Frage, die außerhalb des Rahmens liegt. Der Antirealist wird, wenn er außerhalb dieses sprachlichen Rahmens steht, sagen, dass Eigenschaften nicht real existieren und dass daher der Hund nicht die Eigenschaft der Bräune hat (obwohl er braun ist) und John nicht die Eigenschaft, an der University of Notre Dame zu studieren (obwohl er sehr wohl dort studiert). Das „Reden über Eigenschaften“ ist einfach eine bestimmte, nützliche Art zu reden.
Ähnlich können wir den sprachlichen Rahmen des Redens über Propositionen wählen. Innerhalb dieses Rahmens ist es unproblematisch, über die Wahrheit bzw. Falschheit der verschiedenen Propositionen zu reden. Jemand, der innerhalb dieses Rahmens den Satz aufstellt: „Es gibt keine Propositionen, die wahr sind“, macht eine sich selbst widerlegende Aussage, weil er diese Proposition ja für wahr hält. Ich glaube, dass damit der selbstwiderlegende Status der von Ihnen zitierten Behauptung klar ist. Wer so redet, hat erst den sprachlichen Rahmen des Redens über Propositionen gewählt und dann eine selbstreferentiell inkohärente Behauptung aufgestellt.
Aber jemand, der außerhalb dieses Rahmens steht, kann sich durchaus fragen, ob abstrakte Objekte wie Propositionen real existieren. Der Antirealist wird hier sagen, dass es in der Realität keine Propositionen gibt, womit es auch keine wahren oder falschen Propositionen gibt. Diese Behauptung ist, da sie außerhalb des genannten Rahmens erfolgt, vollkommen kohärent. Wenn ich außerhalb des Rahmens sage: „Es gibt keine Propositionen, die wahr sind“, stelle ich nicht die selbstwiderlegende Behauptung auf, dass die Proposition p = „Es gibt keine Propositionen, die wahr sind“ wahr sei. Von meiner Perspektive außerhalb des Rahmens aus behaupte ich nicht, dass p wahr ist, sondern steige semantisch eine Stufe hinunter und behaupte p.
Statt zu sagen: „Es ist wahr, dass Heidi Schokolode mag“, kann ich z.B. semantisch eine Stufe hinabsteigen und einfach sagen: „Heidi mag Schokolade.“ Wenn wir so reden, sagen wir die Wahrheit, falls Heidi wirklich Schokolade mag, und die Unwahrheit, falls sie nicht Schokolade mag, und damit können wir wahr oder falsch reden, ohne uns um die Existenz abstrakter Propositionen kümmern zu müssen. Jemand, der sich außerhalb des Rahmens befindet und sagt: „Es gibt keine Propositionen“, sagt die Wahrheit, weil Propositionen nicht real existieren, und er tut dies, ohne damit irgendeinen exotischen postmodernen Antiobjektivismus oder Relativismus zu unterschreiben.
Wenn wir sagen: „Es ist wahr, dass Heidi Schokolade mag“, sind wir semantisch eine Stufe aufgestiegen, sodass wir nicht mehr über Heidi reden, sondern über eine Proposition. Warum ist die Möglichkeit, semantisch eine Stufe aufzusteigen, in der natürlichen Sprache nützlich oder erforderlich? Die Antwort: Das Wahrheitsattribut dient dem Zweck der „blinden“ Wahrheitszuschreibung. In vielen Fällen sind wir außerstande, die Wahrheit der Aussage (Proposition) oder Aussagen zu behaupten, weil es zu viele gibt (wie bei dem Satz: „Alles, was er sagte, war wahr“) oder weil wir die relevanten Aussagen schlicht nicht kennen (wie bei dem Satz: „Alles, was in den Geheimdokumenten steht, ist wahr“). Wir brauchen einen Mechanismus des semantischen Aufstiegs, um solche blinden Wahrheitszuschreibungen vornehmen zu können. Es stimmt also nicht, dass ich „ein semantisches Reden über Wahrheit zu vermeiden versuche“; ich glaube, dass ein solches Reden unerlässlich für den Diskurs unter Menschen ist. Wenn wir die relevanten Behauptungen nicht machen können [4], brauchen wir eine Möglichkeit, semantisch eine Stufe aufzusteigen, um das sagen zu können, was wir sagen wollen.
Und schließlich, Frank, habe ich nichts gegen Ihre eigene Lösung, den göttlichen Konzeptualismus. Vielleicht kann der Antiplatonist abstrakte Objekte tatsächlich dadurch vermeiden, dass er als Träger des Wahrheitswertes nicht Propositionen, sondern die Gedanken Gottes nimmt. Was ich nicht akzeptieren kann, ist die Existenz unerschaffener abstrakter Objekte unabhängig von Gott.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/anti-realism-and-truth
[1]
Eine Proposition ist der Inhalt eines Satzes, einer Überzeugung oder eines Wunsches. Verschiedene Sätze können die gleiche Proposition ausdrücken. ("Der Schnee ist weiß" ist dieselbe Proposition wie "The snow is white").
[2]
Denn wenn Eigenschaften "Dinge" wären, hätten sie wiederum Eigenschaften, etc. (Anm. d. Übers.)
[3]
„Advice to Christian Philosophers“ war der Titel der Antrittsvorlesung von Alvin Plantinga am 4. November 1983 zur „John A. O’Brien Professur in Philosophie“ an der Universität von Notre Dame, USA. Schriftlich ist der Aufsatz zuerst erschienen in: Faith and Philosophy: Journal of the Society of Christian Philosophers, Vol. 1, (10) 1984, S. 253–271. Später hat Plantinga ein zusätzliches Vorwort hinzugefügt: https://www.calvin.edu/academic/philosophy/virtual_library/articles/plantinga_alvin/advice_to_christian_philosophers.pdf.
Die deutsche Übersetzung „Ratschläge für christliche Philosophen“ ist erschienen in „Glaube und Denken heute 2/2014“, S. 6-19, sowie als MBS-Text 184 (Anm. d. Übers.)
[4]
Z.B. weil wir nicht die Zeit haben, jede Proposition einzeln auszusprechen und daher summarisch "über" mehrere Propositionen reden müssen. (Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig