#401 Wie kann Gott im Voraus wissen, wie sich die Menschen entscheiden werden?
January 14, 2016
F
Guten Tag,
Im letzten Jahr habe ich viele Ihrer Beiträge gehört und gelesen und habe daraus viel gelernt – nicht zuletzt aus der Serie Defenders Podcast [1]. Ich habe Ihre Beiträge auf der Suche nach einer Antwort auf eine spezifische Frage durchforstet, bin aber nicht fündig geworden – daher schreibe ich Ihnen jetzt.
Ich versuche, Klarheit in der Frage der Willensfreiheit und des Vorherwissens Gottes zu erlangen. Ich sehe keinen Widerspruch: Der Mensch entscheidet sich frei, und Gott sieht diese freie Entscheidung vorher. Vorherwissen ist nicht dasselbe wie Vorherbestimmung.
Aber hier ist meine Frage: Wie kann das sein? Wie kann Gott im Voraus wissen, wofür ich mich entscheiden werde, wenn meine Entscheidung frei sein soll? Ich könnte mir vorstellen, dass er meine Entscheidungen vorhersieht, wenn ich etwa durch genetisch bedingte Einflüsse, durch Erziehung und Lebensumstände determiniert wäre, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Aber dann wäre der Wille doch nicht frei – oder?
Wenn Gott den Ort und die Geschwindigkeit jedes Teilchens im Universum kennt, kann er jedes zukünftige Ereignis auf Basis von Ursache und Wirkung vorhersagen, solange es um den rein materiellen Bereich geht. Aber unsere freien Entscheidungen liegen außerhalb dieses Bereiches.
Lange Rede, kurzer Sinn: Wie kann Gott wissen, wofür ich mich entscheiden werde?
Vielen Dank für Ihre Zeit und für Ihren großartigen Dienst für den Herrn.
Paulus
Norway
Prof. Craigs Antwort
A
Dieser Frage, Paulus, bin ich in Teil 3 meines Buches The Only Wise God. The Compatibility of Divine Foreknowledge and Human Freedom (Wipf & Stock, 2000) nachgegangen. Ich erlaube mir daher, Sie auf die Erörterungen dort zu verweisen.
Ihre Frage unterstellt, dass Gott innerhalb der Zeit existiert, so wie wir auch. Aber wenn Gott außerhalb der Zeit existiert, dann hat er nicht im wörtlichen Sinne ein Vorauswissen. Denn was für uns Zukunft ist, ist nicht Zukunft für ihn. Also weiß er, was in unserer Zukunft liegt, aber er weiß es nicht voraus. Diejenigen, die die Zeitlosigkeit Gottes verteidigen, haben daher keine Schwierigkeiten mit Ihrer Frage, da die Frage voraussetzt, dass Gott "in der Zeit" bzw. an die Zeit gebunden ist.
Aber mal angenommen, wir gehen – wie ich auch – davon aus, dass Gott zu jedem Zeitpunkt existiert, und daher die Zukunft im buchstäblichen Sinn vorausweiß. Wie Sie richtig geschrieben haben, kann das Vorherwissen künftiger Entscheidungen nicht auf Schlüssen aus gegenwärtigen Ursachen basieren, denn dies setzte den Determinismus voraus und höbe die Freiheit der Entscheidung auf. Also muss Gott auf anderem Wege von den freien Entscheidungen Kenntnis erhalten.
Um diese Frage besser beantworten zu können, möchte ich zwei Modelle göttlicher Erkenntnis unterscheiden: das wahrnehmungsbasierte (engl. "perceptualist") und das begriffsbasierte (engl. "conceptualist") Modell. Das wahrnehmungsbasierte Modell versteht Gottes Erkenntnisart analog zu unserer Sinneswahrnehmung. Dieses Modell liegt der Vorstellung zugrunde, wonach Gott „künftige Ereignisse voraussieht“ (Ihre Sichtweise). Er blickt gewissermaßen in die Zeit „voraus“ und "sieht", was dort geschieht. Diese Sprechweise ist freilich metaphorisch, und mir fallen spontan zwei stimmige Ansätze zu wahrnehmungsbasierten Modellen des göttlichen Vorauswissens ein. Aber beide Modelle implizieren gewisse ontologische Festlegungen, deren Forderungen ich nicht nachkommen möchte.
Der eine Ansatz vertritt eine „zeitlose“ Theorie der Zeit, wonach alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse stets gleichermaßen real sind, also gewissermaßen „gleichzeitig“ existieren; das zeitliche Werden ist hier nur subjektive Illusion des menschlichen Bewusstseins. Problematisch wird dieses wahrnehmungsbasierte Modell dort, wo man die Zeit als die Ordnung der Dinge nacheinander ansieht, denn dann gibt es zu einem gegebenen Zeitpunkt nichts, was man (von hier aus) in der Zukunft erblicken könnte. Wenn alle Ereignisse des Zeitstrahls „gleichzeitig“ existieren bzw. real sind, dann kann Gott alles Gegebene jederzeit sehen. Er braucht dann nur „nachzusehen“, und sieht exakt das, was aus unserer Sicht „eigentlich“ noch in der Zukunft liegt.
Ein anderer Ansatz geht so: Es existieren abstrakte Objekte („Propositionen“), die jeweils mit einem Etikett „wahr“ oder „falsch“ versehen sind. Vertritt man eine realistische Sicht dieser Objekte, muss Gott nicht in die Zukunft blicken, um zu wissen, was geschehen wird. Er „weiß“ die Zukunft vielmehr, indem er Propositionen, die die Zukunft betreffen, aber bereits in seinem „Hier und Jetzt“ existieren (bzw. zeitlose Propositionen über zukünftige Ereignisse) ansieht. Er sieht sofort, ob eine Proposition die Eigenschaft wahr oder falsch hat. Ein allwissender Gott kann im Hinblick auf dingliche Eigenschaften nicht unwissend sein. Wenn Sie – wie ich – abstrakten Objekten wie Propositionen wirkliches Sein zuschreiben möchten, können wir statt von Propositionen gerne auch von Gottes eigenen „Überzeugungszuständen“ oder Gedanken sprechen, sowie von den Wahrheitswerten, die ihnen innewohnen.
Es gibt indes keinen Grund, vom wahrnehmungsbasierten Modell der göttlichen Erkenntnis auszugehen, welches im Übrigen eine grotesk anthropomorphe Vorstellung von der göttlichen Erkenntnis darstellt – selbstverständlich erlangt Gott nicht aufgrund von Sinneswahrnehmung oder ähnlichem Kenntnis von mathematischen oder ethischen Wahrheiten! Da tut man besser daran, von einem begriffsbasierten bzw. konzeptualistischen Modell auszugehen: Hier denkt man sich Gottes Wissen eher in Analogie zu Platons „angeborenen Ideen“: Platon nahm an, dem Menschen komme mit einem bestimmten Wissen bereits zur Welt; die Erziehung hat die Rolle, ihn an dieses vergessene Wissen zu erinnern. Ein solches Modell passt kaum zum Menschen, sehr wohl aber auf das Wissen Gottes. Als allwissendes Wesen (die Allwissenheit ist integraler „Bestandteil“ seines Wesens) glaubt Gott nur die Wahrheit und jede Wahrheit. Er hat sein Wissen nicht von woanders, es wohnt ihm einfach inne. Man vergleiche dies mit anderen göttlichen Eigenschaften wie etwa der Allmacht. Es hat keinen Sinn zu fragen, wie Gott allmächtig geworden ist, etwa durch Übung oder Erfahrung. Gott ist von seinem Wesen her allmächtig. In der gleichen Weise ist er von seinem Wesen her allwissend. Daraus folgt, dass er alle Wahrheiten über zukünftige Ereignisse weiß, und das gibt ihm vollständiges Wissen über die Zukunft.
Ich halte dieses einfache begriffsbasierte Modell von der göttlichen Erkenntnis für vollauf zufriedenstellend, dennoch können wir die Analyse noch einen Schritt weiter führen. Denn wenn Gott – theologisch ausgedrückt – "mittleres Wissen" hat, ist das Vorauswissen unmittelbare Konsequenz. Durch sein mittleres Wissen weiß Gott, was jede freie Person unter jeweiligen gottgegebenen Umständen tun wird. Wenn Gott einen Menschen erschafft und ihn in ein bestimmtes Umfeld setzt, so weiß er genau, was er tun wird, ohne seine Freiheit in irgendeiner Weise einzuschränken. Gott kennt die Zukunft aufgrund seines mittleren Wissens und des Wissens seiner eigenen Entscheidung, welche Personen und Umstände er erschafft, auch ohne jede Wahrnehmung der Welt.
Natürlich wird man nun fragen: Was ist die Grundlage von Gottes mittlerem Wissen? Die Antwort darauf ähnelt der bereits gegebenen. Wenn man von der Existenz individueller Essenzen ausgeht (z.B. Ihre essentiellen Eigenschaften), kann Gott diese einfach prüfen, um zu sehen, welche kontingenten und kontrafaktischen Eigenschaften diesen essentiellen Eigenschaften im Hinblick auf das künftige Tun einer Person unter gegebenen Umständen innewohnen, wenn diese Essenzen realisiert sind. Ich neige dazu, Gottes mittleres Wissen einfach als ihm wesentliches Wissen anzusehen – schließlich ist er allwissend!
(Übers.: R. Nolte; L.: I.C.)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/how-does-god-foreknow-free-choices
[1]
Vgl. http://www.reasonablefaith.org/defenders-3-podcast. Siehe auch die beiden früheren Serien: http://www.reasonablefaith.org/defenders-2-podcast sowie http://www.reasonablefaith.org/defenders-1-podcast. Die behandelten Themen sind jeweils ähnlich, jedoch in leicht unterschiedlicher Ausführlichkeit oder Schwerpunktsetzung. (Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig