#406 Ist die Anwendbarkeit der Mathematik auf die physische Welt notwendig?
July 12, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
kürzlich hörte ich, wie Sie sowohl bei „Premier Christian Radio“ als auch in Ihrer Debatte mit Alex Rosenberg die Anwendbarkeit der Mathematik auf das physische Universum als Argument für die Existenz Gottes anführten. Wenn es um Mathematik geht, bin ich zwar nicht besonders sachkundig, aber Ihre Ausführungen darüber, inwiefern das Argument aus der Anwendbarkeit der Mathematik dem Argument aus der Feinabstimmung der Naturkonstanten ähnelt, haben mich fasziniert. Das Argument, welches Sie in der Debatte mit Rosenberg verwendeten, lautete wie folgt:
1. Würde Gott nicht existieren, wäre die Anwendbarkeit von Mathematik nur ein glücklicher Zufall.
2. Die Anwendbarkeit von Mathematik ist kein glücklicher Zufall.
3. Daher existiert Gott.
Zu dieser These habe ich zwei Fragen. Erstens, betreffs der ersten Prämisse/Annahme: Sie sagen, dass es nur zwei Alternativen gibt, um die Anwendbarkeit der Mathematik auf die Gegenstände der Außenwelt zu erklären: entweder Gott oder Zufall. Aber könnte es nicht weitere Erklärungsmöglichkeiten geben außer Gott und Zufall? Könnte es sein, dass man die Anwendbarkeit von Mathematik, ähnlich wie die These von der Feinabstimmung, einfach mit deren Notwendigkeit erklären könnte? Demnach müsste jede mögliche Welt notwendigerweise in irgendeiner Weise mathematisch erklärbar sein. Eine mathematisch nicht erklärbare Welt ist schwer vorstellbar. Wie würde eine solche Welt aussehen? Da es anscheinend unmöglich ist, dass eine Welt nicht auch mathematisch erklärbar ist, ist die Anwendbarkeit von Mathematik auf das physische Universum nötig. Aber vielleicht habe ich hier das Wesen abstrakter Objekte missverstanden.
Was zweitens die zweite Prämisse angeht, so habe ich hier wirklich eine Verständnisfrage. Wenn ich das Argument richtig verstanden habe, so wird die zweite Prämisse mit der kausalen Machtlosigkeit abstrakter Objekte begründet. Habe ich das richtig verstanden?
Ich schätze Ihre Arbeit sehr, und es ist mir eine große Unterstützung und Hilfe, um als Christ zu wachsen. Ich nutze Ihre apologetischen Ausführungen jetzt regelmäßig, wenn ich zu den Jugendlichen unserer Gemeinde spreche.
Für Christus und sein Königreich
Tim
United Kingdom
Prof. Craigs Antwort
A
Das Rätselraten um die Anwendbarkeit der Mathematik auf die physische Welt wird in der Fachliteratur immer wieder besprochen und scheint hier stets für echtes Erstaunen zu sorgen. Könnte das Rätsel durch die Aussage gelöst werden, dass die physische Welt aus logisch zwingenden Gründen die mathematische Struktur haben muss, die sie hat, hätte man die Frage vor langer Zeit schon fallengelassen. Aber sowohl Philosophen als auch Physiker drücken in diesem Punkt immer wieder ihre Verwunderung aus. Tatsächlich wissen wir, wie ich im Interview dargelegt habe, dass der Raum (bzw. die Raumzeit) nicht zwingend die geometische Struktur haben muss, die er bzw. sie hat. Vor Riemann dachte man, dass euklidische Geometrie notwendigerweise immer vorliegt, aber durch die Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien wurde uns bewusst, dass wir nicht a priori wissen konnten, dass wir im dreidimensionalen Raum leben, sondern sozusagen erst empirisch feststellen mussten, welche Sorte Geometrie die physische Welt charakterisiert.
Vielleicht musste die Welt aus logisch zwingenden Gründen irgendeine Art mathematischer Struktur haben. Ich sage „vielleicht“, denn warum könnte physikalische Realität nicht einfach ein Chaos sein? Aber vielleicht musste die Welt beschreibbar sein mittels der Theoreme der elementaren Arithmetik wie 2+3=5. Was aber ist mit anderen Bereichen der Mathematik und den höheren Sphären der Mathematik? Es ist die unglaublich komplexe mathematische Struktur der physischen Welt, wie die Naturwissenschaft sie zeigt, die so überraschend ist und nach einer Erklärung ruft.
In diesem Sinne ist das Argument aus der Anwendbarkeit der Mathematik für die Existenz Gottes dem Argument aus der Feinabstimmung für die Existenz Gottes ähnlich, welches besagt, dass die komplexe Konstellation physikalischer Konstanten und Größen, die für die Existenz von lebendigen interagierenden und körperlichen Wesen erforderlich ist, nach einer Erklärung schreit. Wie Sie schon sagten, gibt es dafür ähnliche Erklärungsalternativen: Notwendigkeit, Zufall, Design. Welche davon ist die beste?
Die kausale Machtlosigkeit abstrakter Objekte (wie z.B. mathematischer Objekte) ist von Bedeutung, jedoch nicht für die zweite, sondern für die erste Prämisse. Man kann nicht sagen, dass die mathematischen Objekte selbst irgendwie die physische Welt so geformt haben, wie sie ist, denn mathematische Objekte haben keinerlei kausale Kräfte, da sie abstrakt (oder auch fiktiv) sind. Daher erscheint dem Naturalisten die Anwendbarkeit der Mathematik wie ein erstaunlicher Zufall, da sie nicht notwendig ist.
Die Gewähr für die zweite Prämisse ist der Umstand, dass die komplexe mathematische Struktur der Welt schwerlich einem bloßen Zufall zugeschrieben werden kann. Design scheint plausibler zu sein.
Ich konnte diese faszinierende Frage hier leider nur an der Oberfläche behandeln und hoffe, mich ihr in Zukunft eingehender widmen zu können. [1]
(Übers.: J. Bothner)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/is-the-applicability-of-mathematics-necessary
[1]
Siehe dazu auch den Artikel von W.L. Craig: Gott und die „ungeheure Effektivität der Mathematik“: http://www.reasonablefaith.org/german/Gott-und-die-ungeheure-Effektivitat-der-Mathematik
Zuerst erschienen in: Christian Research Journal 36 (2013): 31-35.
– William Lane Craig