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#465 Präsentismus und frühere Existenz

#465 Präsentismus und frühere Existenz

November 10, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich habe in Ihrem Buch „Time and Eternity“ den Abschnitt über Perdurantismus [1] gelesen, und habe eine Frage zu Ihrem Einwand gegen die perdurantistische Auffassung des Bewusstseins seiner selbst.

Sie behaupten, dem Perdurantismus zufolge sei personale Kontinuität von einem Augenblick zum nächsten eine Illusion und Perdurantisten würden glauben, dass ich vor einer Sekunde ein anderer Mensch als jetzt war, was Sie für absurd halten.

Indes, mir scheint, dass wir auf dieselbe Weise auch gegen den Präsentismus [2] argumentieren können, behauptet dieser doch, dass nur die Gegenwart existiert. Das scheint aber absurd zu sein, insofern ich mich deutlich an mein Existieren vor einer Minute erinnern kann, während ich dem Präsentismus zufolge vor einer Minute nicht existiert habe. Des Weiteren stützen Sie Ihren empirischen Beweis des Endurantismus auf unsere Eigenerfahrung als durch die Zeit hindurch fortdauernde Wesen. Ich habe aber einige Mühe, dies mit der Behauptung des Präsentismus zu vereinbaren, wonach wir in der Vergangenheit nicht existieren.

In der Hoffnung, dass Sie irrige Vorstellungen meinerseits zu diesem Thema bereinigen können, bin ich in Christus

Ihr Ethan

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Ethan, lassen Sie mich für diejenigen, die mit dem Hintergrund Ihrer Frage nicht vertraut sind, erklären, dass der Perdurantismus die Auffassung ist, wonach Menschen in Wirklichkeit vierdimensionale, zeitlich und räumlich ausgedehnte Objekte sind, die zuweilen auch als „Raum-Zeit-Würmer“ bezeichnet werden (vielleicht wäre das ja mal eine ganz neue Lesart der Klage aus Psalm 22, 6 „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch!“). Besagte Raum-Zeit-Würmer lassen sich in Zeitscheiben aufschneiden und besitzen somit sowohl zeitliche als auch räumliche Teile. Was uns als Menschen erscheint, sind daher in Wirklichkeit nur dreidimensionale Scheiben von vierdimensionalen Objekten. Da die zeitlichen Teile nicht durch die Zeit hindurch fortdauern, sondern nur innerhalb ihrer jeweiligen Koordinaten existieren, dauert niemand durch zwei Augenblicke hindurch fort: Sie sind buchstäblich ein anderer Mensch als der, der mit dem Lesen meiner Antwort begann. Diese Auffassung erscheint doch völlig abwegig, von den theologischen Problemen einmal ganz zu schweigen.

Im Gegensatz dazu behauptet der Präsentismus, dass Objekte keine zeitlichen Teile besitzen, sondern jeweils als Ganzes existieren. Folglich existiere ich jetzt und daure zu einem anderen Moment hin in der Zeit fort.

Sie sagen, dass auch der Präsentismus absurd erscheine, „insofern ich mich deutlich an mein Existieren vor einer Minute erinnern kann, während ich dem Präsentismus zufolge vor einer Minute nicht existiert habe“. Dabei trügt Sie aber Ihr nachlässiger Umgang mit dem Tempus. Denn wenn Sie behaupten, dass Sie sich an Ihr Existieren vor einer Minute erinnern, dann klingt das Wort „Existieren“ zwar wie Präsens [3], aber das ist irreführend. Woran Sie sich in Wirklichkeit erinnern, ist, dass Sie vor einer Minute existiert haben (Perfekt!). Und der Präsentist stimmt dem bei! Sie haben vor einer Minute existiert und haben bis zum gegenwärtigen Augenblick, in dem Sie existieren (Präsens), fortgedauert. Deshalb irren Sie in der Annahme, der Präsentismus vertrete die Auffassung, dass Sie vor einer Minute nicht existiert haben. Natürlich haben Sie das. Und Sie werden es auch noch in einer Minute tun (Futur).

Ebenso nachlässig ist Ihr Umgang mit dem Tempus, wenn Sie darüber klagen, dass „unsere Eigenerfahrung als durch die Zeit hindurch fortdauernde Wesen“ kaum mit der Behauptung, dass wir „in der Vergangenheit nicht existieren“, zu vereinbaren ist. Was der Präsentist behauptet, ist, dass wir in der Vergangenheit existiert haben (Zeitform: Perfekt!). Und diese Behauptung lässt sich problemlos damit vereinbaren, dass wir bis zur Gegenwart fortgedauert haben. Solange Sie auf den richtigen Gebrauch der Tempora achten, gibt es also keine Probleme.

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/presentism-and-past-existence

(Übers.: M. Köhler)

[1]

Vgl. auch die Definition und Erklärung der Begriffe "Perdurantism" und "Endurantism" in der Stanford Encyclopedia of Philosophy: http://plato.stanford.edu/entries/temporal-parts/#2.

Der Perdurantismus vertritt, dass Objekte wie Tische, Bäume, Menschen nicht nur räumliche Teile haben (z.B. Tischbeine unten, Tischplatte oben), sondern auch "zeitliche Teile": es gibt sozusagen einen überzeitlichen "Gesamttisch", der mehrere zeitliche Teile hat: einen "Tisch vorgestern", einen "Tisch gestern", einen "Tisch heute" und einen "Tisch morgen", etc. Diese Teile können verschiedene Eigenschaften haben – der Tisch morgen kann z.B. einige Kratzer mehr haben als der Tisch heute etc.

Der Endurantismus hingegen bestreitet, dass es zeitliche Teile gibt; zwar stimmt er zu, dass sich Dinge über die Zeit verändern, aber für den Endurantisten ist ein Gegenstand in der Gegenwart jeweils vollständig präsent. Das Auto vor mir ist nicht Teil eines Gesamtautos (zu dem noch alle früheren und späteren "zeitlichen Teile", wie "Auto gestern", "Auto morgen", "Auto übermorgen" hinzugezählt werden müssen), sondern alle Teile des Autos (wie es jetzt ist) sind jetzt vorhanden.(Anm. d. Übers.)

[2]

Der Präsentismus vertritt, dass nur gegenwärtige Objekte, Ereignisse und Zustände existieren. (Vergangenheit und Zukunft haben jetzt keine objektive Realität.) (Anm. d. Übers.)

[3]

Im Englischen ist dies noch deutlicher: "Existing" (im Satz "Existing a minute ago") klingt nach Präsens. (Anm. d. Übers.)

– William Lane Craig

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