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#468 Deduktive Argumente und Wahrscheinlichkeit

#468 Deduktive Argumente und Wahrscheinlichkeit

November 10, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig!

Sie haben oft erklärt, ein deduktives Argument sei dann gut, wenn es zwei Bedingungen erfülle: Es müsse logisch gültig sein, und jede Prämisse müsse wahrscheinlicher sein als ihre Negation. Überdies haben Sie in einem kürzlich erschienenen Newsletter folgende Behauptung aufgestellt: „In einem deduktiven Argument legt die Wahrscheinlichkeit der Prämissen nur die minimale Wahrscheinlichkeit der Konklusion fest: Selbst wenn die Prämissen nur zu 51% wahr sind, folgt daraus nicht, dass auch der Konklusion eine Wahrscheinlichkeit von nur 51% zukommt, sondern dass sie eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 51% hat.“

Doch warum soll die Wahrscheinlichkeit einer Prämisse nur die minimale Wahrscheinlichkeit der Konklusion festlegen? Sollte sie nicht vielmehr ihre maximale Wahrscheinlichkeit begründen?

Stellen Sie sich ein logisch gültiges Argument mit drei Prämissen und einer Konklusion vor, dessen erste Prämisse eine Wahrscheinlichkeit von 75% besitzt. Selbst wenn den anderen Prämissen dann eine Wahrscheinlichkeit von 100% zukäme, würde die Wahrscheinlichkeit, dass alle drei Prämissen gleichzeitig wahr sind, nur 75% betragen, denn 0.75 x 1.0 x 1.0 = 0.75.

Stellen Sie sich nun vor, dass alle drei Prämissen eine Wahrscheinlichkeit von 75% besitzen. Zur Vereinfachung wollen wir annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit der einzelnen Prämissen unabhängig voneinander ist, dass der Wahrheitswert einer Prämisse also keinen Einfluss auf den Wahrheitswert einer anderen hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle drei Prämissen gleichzeitig wahr sind, betrüge dann 0.75 x 0.75 x 0.75 = ~0.42. In diesem Fall hätten wir drei Prämissen, die wahrscheinlicher sind als ihre Negation, wahrscheinlich aber nicht alle wahr sind.

Darum verstehe ich nicht, warum Sie sagen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Prämisse eher die minimale als die maximale Wahrscheinlichkeit der Konklusion festlege. Und warum könnte ein auf wahrscheinlichen Prämissen gründendes, logisch gültiges deduktives Argument nicht immer noch ein schlechtes Argument sein? Ich meine, wenn es wahrscheinlich nicht so ist, dass alle Prämissen gleichzeitig wahr sind, dann ist es doch ein schlechtes Argument, richtig?

Dale

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Diese Frage kam in meinem Dialog mit Kevin Scharp an der Ohio State University zur Sprache. Da sie zu Missverständnissen im Internet geführt hat, bin ich Ihnen für Ihr Nachhaken dankbar.

Grundsätzlich geht es um das Problem des Verhältnisses zwischen der Wahrscheinlichkeit der Prämissen eines deduktiven Arguments und der Wahrscheinlichkeit von dessen Konklusion. Einige Leute haben irrtümlicherweise gedacht, dass sich die Wahrscheinlichkeit der Konklusion aus einer Multiplikation der Wahrscheinlichkeit der Prämissen ergibt. Daraus haben sie gefolgert, dass der Konklusion eines deduktiven Arguments nur dann eine Wahrscheinlichkeit von 51% zukommen könne, wenn die Multiplikation der Wahrscheinlichkeit seiner beiden Prämissen ebenfalls 51% betrage.

Das ist falsch. Denn die Wahrscheinlichkeit der Konklusion eines deduktiven Arguments lässt sich nicht durch die Berechnung der kumulativen Wahrscheinlichkeit seiner Prämissen bestimmen. Wie Prof. Timothy McGrew von der University of Western Michigan mir erklärte, legt das Theorem der Kumulation von Unsicherheiten nur eine untere Grenze für die Wahrscheinlichkeit der Konklusion fest. [1] Somit bestimmt die aus der Konjunktion der Prämissen sich ergebende Wahrscheinlichkeit lediglich die minimale Wahrscheinlichkeit der Konklusion, d. h. die Wahrscheinlichkeit der Schlussfolgerung kann nicht tiefer liegen als die der miteinander verknüpften Vordersätze. Ein Beispiel: Beträgt die Wahrscheinlichkeit der drei Prämissen eines deduktiven Arguments ~0.42, dann liegt die Wahrscheinlichkeit der Konklusion garantiert nicht unter ~0.42. Sie könnte auch sehr viel größer sein, keinesfalls aber unter dieses Minimum absacken.

In meinem Gespräch mit Prof. Scharp wies ich darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit der Konklusion meiner deduktiven Argumente für die Existenz Gottes nicht mit der Wahrscheinlichkeit ihrer Prämissen gleichgesetzt werden darf. Die Wahrscheinlichkeit der Konklusion ist mindestens so groß wie die Wahrscheinlichkeit der Prämissen – Sie werden bemerken, dass Prof. Scharp dies nicht bestritten hat. Was er sagte, war vielmehr, dass eine Konklusion mit einer Wahrscheinlichkeit von nur 51% nicht ausreiche, um den Glauben an sie zu rechtfertigen. Daraufhin erklärte ich ihm, nie behauptet oder gedacht zu haben, dass die Konklusionen meiner Argumente für die Existenz Gottes eine Wahrscheinlichkeit von nur 51% besitzen, sondern dass diese mindestens 51% beträgt und es sich deshalb um gute Argumente handelt.

Dies wirft nun noch eine weitere Frage auf, nämlich was ein "gutes" deduktives Argument auszeichnet. Ich gehe davon aus, dass ein gutes Argument eines ist, dessen Konklusion plausibler erscheint als das Gegenteil. Unter welchen Bedingungen ist also ein Argument gut? Wie Sie wissen, habe ich lange Zeit behauptet, dass es für ein gültiges deduktives Argument, um gut zu sein, ausreicht, dass jede einzelne seiner Prämissen wahrscheinlicher (oder plausibler) ist als ihre Verneinung. Es schien mir, wenn man beide Prämissen jeweils für wahr hält, und die Konklusion aus den Prämissen folgt, dann müsste man auch die Konklusion für wahr halten. Doch die Lektüre von Timothy McGrews und John Depoes interessantem Artikel „Natural Theology and the Uses of Argument“, in Philosophia Christi 15/2 (2013), S. 299-309, sowie der persönliche Schriftwechsel mit McGrew letzten Sommer führten mich zu der Erkenntnis, dass mein Kriterium für ein gutes deduktives Argument inadäquat war. Meinen diesbezüglichen Gesinnungswandel signalisierte ich zum ersten Mal in meinen Defenders-III-Vorlesungen über Natürliche Theologie von letztem August [http://www.reasonablefaith.org/defenders-3-podcast/transcript/excursus-on-natural-theology-part-1]. McGrew verhalf mir zu der Einsicht, dass es Fälle geben kann, in denen jede einzelne Prämisse wahrscheinlicher als ihre Negation ist und es nichtsdestoweniger unvernünftig wäre, die Konjunktion [2] der Prämissen für wahr zu halten. Er erklärte:

„Es geht hier um das Problem deduktiver Geschlossenheit, speziell bei Konjunktionen, über das auch einschlägige Literatur vorliegt. Ein wichtiger Aufsatz zum Thema ist Henry Kyburgs „Conjunctivitis“, [3] in M. Swain, Hg., Induction, Acceptance, and Rational Belief (1970). Meines Erachtens besteht die Haupteinsicht aus diesem und anderen Beiträgen darin, dass es Fälle gibt, in denen es vernünftig ist, P für wahr zu halten, und es vernünftig ist, Q für wahr zu halten, es jedoch nicht vernünftig ist, auch deren Konjunktion (P&Q, also dass beide wahr sind) für wahr zu halten. Lotterien bieten hierfür sehr anschauliche Beispiele, ist es doch bei einer einfachen, fairen Lotterie mit endlich vielen Losen und genau einem möglichen Gewinner vernünftig zu glauben, Los 1 sei eine Niete, Los 2 sei eine Niete, usw. – bis zum letzten Los. Offensichtlich ist es aber unvernünftig, die Konjunktion dieser Aussagen für wahr zu halten (also dass alle Lose eine Niete sind), denn dies widerspräche (aufgrund unseres Hintergrundwissens) der Idee des Lotteriespiels als solcher, weil es keinen Gewinner gäbe. [4]

Während ein deduktives Argument also sehr wohl ein gutes sein kann, sofern es die von mir zugrunde gelegte Bedingung erfüllt, ist das nicht genug, um zu garantieren, dass es ein gutes ist. Um sicherzustellen, dass die Konklusion mehr Wahrscheinlichkeit besitzt als ihre Negation, muss auch die Konjunktion der Prämissen wahrscheinlicher wahr als falsch sein. McGrew fährt fort:

„Die einzige Garantie dafür, dass eine deduktiv aus einer Menge von Prämissen gewonnene Konklusion plausibler ist als ihre Negation, bietet die Verwendung von Prämissen, deren Konjunktion plausibler wahr ist als falsch. Diese Aussage ist ein bisschen knifflig: Man könnte sie missverstehen. Was wir suchen, ist ein allgemeines Prinzip, das die Bedingungen festlegt, unter denen für eine beliebige logische Folgerung C aus einer Menge von Prämissen gilt, dass C plausibler ist als nicht-C. Einzelne Folgerungen differieren freilich hinsichtlich ihrer Plausibilität. Ziel ist jedoch, eine Bedingung aufzustellen, unter der dieses charakteristische Merkmal gesichert ist, ganz unabhängig davon, welche Folgerung man zieht. Und die Erfüllung dieser Bedingung ist notwendig, um die Aufgabe zu bewältigen.

Diese Behauptung lässt sich auf eine sehr direkte Weise beweisen. Nehmen wir z. B. an, wir haben folgende Menge von Prämissen:

{P, Q, R}

Nehmen wir weiterhin an, dass die große Konjunktion ((P & Q) & R) nicht plausibler wahr als falsch ist. Dann gibt es mindestens eine logische Folgerung aus den Prämissen, der es misslingt plausibler als ihr Gegensatz zu sein – nämlich genau diese Konjunktion. Deshalb ist es eine notwendige Bedingung für die „Erhaltung der Plausibilität“ (mit diesem Begriff meine ich „allein auf Basis der Informationen über die Plausibilität der einzelnen Prämissen zu garantieren, dass jede deduktiv aus diesen Prämissen gewonnene Konklusion selbst plausibler als ihre Negation ist“), dass die Konjunktion der Prämissen plausibler wahr als falsch ist.“

Um also garantieren zu können, dass die Konklusion des Arguments eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 51% besitzt, bedarf auch die Konjunktion seiner Prämissen einer Wahrscheinlichkeit von mind. 51%, wobei die Wahrscheinlichkeit der Konklusion nicht mit der Wahrscheinlichkeit der Prämissen übereinstimmt, sondern nur sichergestellt wird, dass sie mindestens so groß wie diese ist.

Dementsprechend habe ich in meinem Gespräch mit Kevin Scharp betont, dass meine Argumente für die Existenz Gottes sogar die von McGrew aufgestellte Bedingung erfüllen und daher als gute Argumente gelten dürfen. In bestimmten Fällen ist die Anzahl der Prämissen ja so gering und eine der Prämissen so gewiss, dass die untere Grenze der Konklusion geradewegs mit der Wahrscheinlichkeit der Hauptprämisse übereinstimmt. [5] Deshalb denke ich, dass die Konjunktion der Prämissen in meinen Argumenten für Gott wahrscheinlicher wahr als falsch ist, und so gesichert ist, dass auch die jeweilige Konklusion mehr Wahrscheinlichkeit besitzt als ihre Negation und es sich folglich um gute Argumente handelt.

Ein wichtiger letzter Punkt bei McGrew und Depoe, den ich in meinem Gespräch mit Scharp übergangen habe, ist, dass selbst dann, wenn die Konklusion keine 51-prozentige Wahrscheinlichkeit besitzt, daraus nicht folgt, dass das Argument schlecht ist. Denn selbst wenn bei einigen Argumenten die Untergrenze der Wahrscheinlichkeit ihrer Konklusion die 50%-Marke unterschreitet, kann die kumulative Stärke dieser Argumente ohne weiteres darüber liegen. Angesichts der Fülle der von Scharp genannten, einander ergänzenden Argumente für Gottes Existenz, die ich verteidigt habe, ist die kumulative Argumentation für den Theismus selbst dann stark, wenn jedes einzelne Argument für sich genommen nicht als „gut“ eingestuft wird.

(Übers.: M. Köhler)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/deductive-arguments-and-probability

[1]

S. auch Timothy McGrew und John Depoe, „Natural Theology and the Uses of Argument“, Philosophia Christi 15/2 (2013): 3012299-3095. Darin findet sich auch der Hinweis auf Ernest W. Adams, A Primer of Probability Logic (Stanford: CSLI, 1998), S. 31-34.

(Eine Vorabversion des Artikels von McGrew und Depoe findet sich online: https://appearedtoblogly.files.wordpress.com/2011/05/depoe-john-and-mcgrew-timothy-22natural-theology-and-the-uses-of-argument22.pdf; Anm. d. Übers.)

[2]

Eine Konjunktion ist ein Satz, der aus zwei oder mehr mit "und" verbundenen Teilsätzen besteht; sie ist nur dann wahr, wenn alle Teilsätze wahr sind: "Es regnet und es schneit" ist nur dann wahr, wenn es sowohl regnet als auch schneit (zur gleichen Zeit).

Eine Disjunktion besteht aus zwei oder mehr Teilsätzen, die durch "oder" getrennt sind; sie ist dann wahr, wenn (mindestens) einer der beiden Teilsätze wahr ist. "Christina spricht Armenisch oder Arabisch" ist nur dann wahr, wenn sie entweder Armenisch oder Arabisch (oder beide Sprachen) spricht. (Anm. d. Übers.)

[3]

Der Aufsatz findet sich online unter folgendem Link: http://joelvelasco.net/teaching/5311/kyburg70-conjunctivitis.pdf

[4]

Persönliche Kommunikation, Timothy McGrew an William Lane Craig, August 2015.

[5]

Z. B. ist im kalām-kosmologischen die erste, kausale Prämisse ("Alles, was angefangen hat zu existieren, hat eine Ursache") so annähernd gewiss, dass die aus der Konjunktion dieser Prämisse mit der zweiten Prämisse „Das Universum hat einmal angefangen zu existieren“ sich ergebende Wahrscheinlichkeit mit der Wahrscheinlichkeit der zweiten Prämisse übereinstimmt. Ähnlich liegt der Fall des Arguments der Feinabstimmung.

(Anm. d. Übers: Die beiden Argumente lauten:

Kalām-kosmologisches Argument:

Prämisse 1: Alles, was angefangen hat zu existieren, hat eine Ursache.

Prämisse 2: Das Universum hat einmal angefangen zu existieren.

Konklusion: Daher hat das Universum eine Ursache.

Feinabstimmungs-Argument:

Prämisse 1: Die Feinabstimmung des Universums ist entweder eine Folge von Zufall, Notwendigkeit oder Design.

Prämisse 2: Die Feinabstimmung des Universums ist nicht eine Folge von Zufall oder Notwendigkeit.

Konklusion: Die Feinabstimmung ist eine Folge von Design.

Prämisse 1 im Feinabstimmungsargument ist praktisch sicher, weil für jegliche Ereignisse im Prinzip keine anderen Möglichkeiten als diese drei denkbar sind.)

– William Lane Craig

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