#470 Erscheinungen des Auferstandenen im längeren Markus-Schluss
November 10, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
ich bin Brasilianer und habe bei meinen Studien zum historischen Jesus einige von Ihnen verfasste Artikel gefunden. Ich war ehrlich erstaunt über Ihre Gabe von Gott, das Evangelium von Christus verständlich zu erklären und durch Argumente zu verteidigen.
Der Grund meines Schreibens ist ein Zweifel, der an meinem Glauben an Jesus Christus nagt. Seit meiner Kindheit bin ich ein treuer Diener unseres Herrn Jesus, doch seit einiger Zeit bedrängen viele Fragen meinen Geist, weshalb ich begonnen habe, die Bibel und die Evangelisten genauer zu erforschen. Dabei habe ich entdeckt, dass die Bibel etliche Makel enthält, wenn auch nichts was meinen Glauben erschüttern könnte. Allerdings habe ich auch herausgefunden, dass die Passage im Markus-Evangelium, die von der Erscheinung des auferstandenen Christus vor seinen Jüngern handelt, nicht in den ersten kanonischen Kodizes enthalten war, sondern erst später von der Kirche hinzugefügt wurde. Da das Markus-Evangelium am ältesten ist (korrigieren Sie mich, wenn ich hier falsch liege) und den anderen Evangelien als Quelle diente, lässt mich folgende Frage nicht mehr los: Könnten die anderen Evangelien womöglich auch Einschiebungen enthalten? Sind nicht viele Evangelienstellen nur spätere Zusätze, die die Kirche gemacht hat, um daraus Vorteil zu schlagen? Ich würde Sie bitten, mir zu helfen, Prof. Craig, denn viele Ihrer Artikel haben mir bei meinen Zweifeln wirklich geholfen. Und außerdem kommen diese Gedanken unfreiwillig in mir auf; sie erscheinen wie Wellen in meinem Geist, und ich kann sie nicht kontrollieren. Ich liebe unseren Herrn Jesus und will meinen Glauben an Christus nicht verlieren.
Herzliche Grüße
Jonathan
Brazil
Prof. Craigs Antwort
A
Da ich in den letzten Wochen einige ziemlich schwierige philosophische Probleme behandelt habe, ist eine rein biblische Frage, denke ich, eine willkommene Abwechslung, zumal wenn Sie von einem unserer vielen Freunde in Brasilien kommt!
Das, worauf Sie sich beziehen, Jonathan, ist die Tatsache, dass einige Manuskripte, und zwar insbesondere die zu den byzantinischen und westlichen Textvarianten gehörigen, im Markusevangelium einen längeren Schlussteil aufweisen, der auch einige aus den anderen Evangelien entlehnte Erscheinungen des Auferstandenen zu enthalten scheint. Wir können dankbar sein, das wir für unseren neutestamentlichen Text nicht auf die Manuskripte eines einzigen Texttyps angewiesen sind, sondern auch ältere und verlässlichere Quellen besitzen. Durch den Vergleich der byzantinischen, alexandrinischen, cäsareischen und westlichen Texttypen sind Bibelwissenschaftler in der Lage, den ursprünglichen Wortlaut des Neuen Testaments mit 99-prozentiger Genauigkeit zu rekonstruieren! Das Neue Testament ist das am besten bezeugte Buch der Antike, sowohl hinsichtlich der Anzahl der erhalten gebliebenen Manuskripte als auch hinsichtlich der zeitlichen Nähe ihrer Abfassung zum Urtext.
Abgesehen von der Anfügung des längeren Markus-Schlusses in der Westkirche stellen die sogenannten „Auslassungen des Westens“ die interessantesten Textvarianten in den Erzählungen über Christi Tod und Auferstehung dar. Diese Umschreibung impliziert, dass es Einschiebungen in den anderen Texttypen gibt, die im westlichen Text nicht enthalten sind. Dieser hat im Vergleich zu den anderen Quellen bei einigen Versen einen kürzeren Wortlaut. Die Frage ist: Wurde in die anderen Texte etwas eingeschoben, das im Original nicht enthalten war, oder im westlichen Text etwas ausgelassen, das im Original enthalten war? Die Gelehrten des 19. Jahrhunderts hielten tendenziell den kürzeren westlichen Text für das Original. Heutzutage sind dagegen fast alle Bibelwissenschaftler davon überzeugt, dass der westliche Text gegenüber dem Original an vielen Stellen gekürzt wurde.
Dabei handelt es sich weitgehend um geringfügige Abweichungen. So gehen die meisten Exegeten davon aus, dass der Urtext des Lukas-Evangeliums im Unterschied zum westlichen Text folgende Zusätze enthielt: „Jesu, des Herrn“ (24, 3); „Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden“ (24, 6); „vom Grab“ (24, 9); „und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch“ (24, 36).
Einige dieser Varianten sind allerdings interessant. So stand bei Lukas in der Urfassung vermutlich der im westlichen Text gestrichene Zusatz „Petrus aber stand auf und lief zum Grab. Er beugte sich vor, sah aber nur die Leinenbinden dort liegen. Dann ging er nach Hause, voll Verwunderung über das, was geschehen war“ (24, 12), der ein unabhängiges Zeugnis der bei Johannes (20, 3-10) erwähnten Aufsuchung des Grabes durch die Jünger liefert. Lukas 24, 40, „Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und Füße“, gehört wahrscheinlich auch zum Urtext und bietet ein unabhängiges Zeugnis der bei Johannes (20, 27) erwähnten Wunden an Christi Auferstehungsleib. Ein Fall, in dem die meisten Manuskripte für den kürzeren westlichen Text sprechen, ist Matthäus 27, 49: „einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus“ ist vermutlich eine nachträgliche Einschiebung in Anlehnung an das Johannes-Evangelium.
Selbst wenn alle Textvarianten sich als Anleihen aus den anderen Evangelien herausstellten, müssten Sie also, wie Sie sehen, nicht um den Verlust Ihres Glaubens an Christus fürchten. Die Textkritik (also der Vergleich verschiedener Manuskripte zum Zweck der Ermittlung des ursprünglichen Textes) sollte Ihrem Glauben keinen Abbruch tun, ganz im Gegenteil, sie müsste Ihren Glauben eigentlich nachhaltig stärken, da sie uns eine sichere Kenntnis des griechischen Urtextes vermittelt. Es besteht somit keinerlei Gefahr, dass die Auferstehungsberichte der Evangelien durch die Entdeckung weiterer Manuskripte in Frage gestellt werden. Vielmehr werden sie durch solche Funde zusätzliche Bestätigung erhalten.
(Übers.: M. Köhler)Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/resurrection-appearances-in-the-longer-ending-of-mark
– William Lane Craig