#480 Müssen wir den Tod Christi juristisch deuten?
January 10, 2017
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
als Erstes möchte ich Ihnen danken für das, was Ihr Wirken im Leben meiner Familie bedeutet hat. Meine Frau und ich haben den Mut bekommen, unseren Glauben zuversichtlich weiterzugeben, da wir jetzt wissen, dass wir auf viele der Einwände, die man als Christ zu hören bekommt, eine wohlbegründete Antwort geben können.
Ich bin die meiste Zeit meines Lebens Christ gewesen, aber als ich mein Interesse an der Apologetik entdeckte, merkte ich, wie wenig ich eigentlich über die Grundlagen des Glaubens, den ich da weitergeben und verteidigen wollte, wusste, und so habe ich schließlich angefangen, Theologie zu studieren.
Die Frage, die ich Ihnen stellen möchte, entspringt aus meiner Beschäftigung mit dem Sühneopfer Jesu Christi. Ich fand Howard Marshalls Buch Aspects of the Atonement (2007) mit seiner soliden Verteidigung der stellvertretenden Sühne sehr hilfreich, doch mittlerweile habe ich Zweifel an diesem Bild vom Sühneopfer bekommen.
Diese Zweifel entspringen aus meiner Untersuchung von Römer 3,25, 4,25 und 5,18. Hier schien mir eine eindeutige Bewegung zwischen kultischen und juristischen sprachlichen Bildern zu sein, die eine Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen dem Tod und der Auferstehung Christi zu beschreiben schien. So benutzt Römer 4,25 ein kultisches Bild, um den Grund für den Tod Christi zu beschreiben (unsere Sünden), und ein juristisches Bild, um das Gute zu beschreiben, das seine Auferstehung denen bringt, die an ihn glauben (die Rechtfertigung bzw. den Freispruch). Was mich dabei stutzig machte, war die Tatsache, dass diese Bewegung zwischen den verschiedenen Bildern nur in eine Richtung geht.
Diese spezifische Beziehung zwischen kultischer und juristischer Bildersprache schien von anderen neutestamentlichen Autoren gestützt zu werden. Ich konnte im ganzen Neuen Testament keine Beispiele finden, wo die juristische Sprache der Strafe, des Gerichtes oder der Verurteilung auf Christus am Kreuz bezogen wird.
An dieser Stelle begannen meine Zweifel an der Lehre vom stellvertretenden Sühnetod Christi. Für mich zerrt dieses Bild das Kreuz Christi sozusagen in den Gerichtssaal. Sein Tod ist nicht mehr das Weg, unsere Sünden von uns abzuwaschen, sondern wird zu einem rein juristischen Strafakt. Nein, ich gehe hier nicht den Kritikern vom Typ „der göttliche Prügelknabe“ oder „Gottvater misshandelt seinen eigenen Sohn“ auf den Leim, habe aber den Eindruck, dass diese Umdeutung der Kreuzigung zu einem Gerichtsfall mitursächlich für diese Missverständnisse ist.
Und jetzt also meine Frage: Ich sehe es so, dass Christus buchstäblich als ein Verbrecher verurteilt und hingerichtet wurde, aber gibt es irgendwelche Bibelstellen, die seinen Kreuzestod als den „Prozess“ des Vaters gegen den Sohn sehen? Ich weiß, dass Christus die Sünde im Fleisch verurteilt hat, aber bedeutet das, dass auch er selber am Kreuz verurteilt wurde?
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir sagen würden, wie Sie dies sehen, denn ich betrachte die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod als wichtiges Requisit in der evangelikalen Werkzeugkiste.
Danke für die Zeit, die Sie sich für mich nehmen.
Mit freundlichen Grüßen,
Jonathan
Neuseeland
New Zealand
Prof. Craigs Antwort
A
Ich freue mich über Ihr wachsendes theologisches Interesse, Jonathan! Ich ringe zurzeit mit den gleichen Fragen, die Sie umtreiben.
Lassen Sie mich mit einem sprachlichen Hinweis beginnen. Sie reden von „kultischen und juristischen sprachlichen Bildern“ und dem „Bild vom Sühneopfer“. Das Neue Testament benutzt im Zusammenhang mit der Versöhnung durch Christus in der Tat Bilder (in erster Linie das des „Lösegeldes“), aber ich sehe keinen Grund, das Reden vom Opfer und von der Strafe nicht wörtlich zu nehmen. Lassen Sie sich nicht von der Mode, all diese Kategorien als bloße Bilder zu nehmen, einlullen. Was die kultische Sprache betrifft (also das mit dem alttestamentlichen Gottesdienst und Opfer zusammenhängende Ritual), so scheint mir der Tod Jesu Christi ganz buchstäblich ein Sühneopfer für Gott gewesen zu sein, das, wie die Opfer des Alten Bundes, dazu diente, Gottes Zorn zu besänftigen und unsere Sünden zu sühnen. Da gibt es nichts bloß Bildliches! Und was die juristische Sprache angeht, so besagt die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod, dass Christus an unserer Stelle (also als der, der uns vor Gott vertritt) starb, damit wir von der Strafe für die Sünde frei werden können. Auch das ist kein bloßes Bild!
Weiter: Formulierungen wie die, dass das Kreuz Christi in den Gerichtssaal gezerrt wird, sind abwertend und für eine objektive Prüfung der Fakten hinderlich. Tatsache ist, dass hier die Sühnetodtheologie mitnichten in einen ihr fremden Kontext gestellt wird. Die Anwendung einer juristischen Terminologie auf die Beziehung des Menschen zu Gott ist zutiefst jüdisch. [1] Im Alten Testament wird Gott mit dem juristischen Titel „Richter“ angeredet (1. Mose 18,25) und verhält sich auch als solcher. Aber er ist nicht nur der große Richter, sondern auch der Gesetzgeber. Das Herz des Alten Testaments ist die göttliche Tora (Gesetz), die das gesamte Leben des Menschen und seine Beziehung zu Gott regelt. Von den 220 Vorkommen des Wortes tora im Alten Testament beziehen sich nur 17 eindeutig nicht auf Gottes Gesetz. Von den 127 Vorkommen des Wortes hoq („Vorschrift“) beziehen sich 87 auf Gott; ein anderes Wort für „Vorschrift“ ist huqqa, das 104 Mal vorkommt, davon 96 Mal mit dem gleichen Bezug. Mishpat, das ca. 180 Mal auf Gott angewendet wird, ist das übliche Wort für „Urteil“ und bezeichnet in seiner Partizipialform Gott den Herrn als Richter; es kann auch „Gesetz“ bedeuten. Nach Morris benutzen die Verfasser des Alten Testamentes, wenn sie sich auf das beziehen, was Gott tut, oft mit Vorliebe juristische Ausdrücke und Bilder (vgl. z. B. Jesaja 3,13 und 14,21; Micha 6,1–2). Die Benutzung juristischer Kategorien in Bezug auf Gott „ist häufig – so häufig, dass klar ist, dass wir es hier mit etwas zu tun haben, das tief im hebräischen Denken verwurzelt ist. Gott und das Gesetz, die beiden gehörten zusammen.“ [2] Es ist nicht leicht, sich eine Religion vorzustellen, die mehr in juristischen Kategorien denkt als das alttestamentliche Judentum.
Und das Neue Testament? Es ist voll von juristischen Ausdrücken, die seine jüdischen Wurzeln zeigen. [3] Paulus z. B. benutzt zur Beschreibung des Todes Christi sowohl kultische als auch juristische Ausdrücke:
Doch jetzt hat Gott – unabhängig vom Gesetz, aber in Übereinstimmung mit den Aussagen des Gesetzes und der Propheten – seine Gerechtigkeit sichtbar werden lassen. Es ist eine Gerechtigkeit, deren Grundlage der Glaube an Jesus Christus ist und die allen zugute kommt, die glauben. Dabei macht es keinen Unterschied, ob jemand Jude oder Nichtjude ist, denn alle haben gesündigt, und in ihrem Leben kommt Gottes Herrlichkeit nicht mehr zum Ausdruck, und dass sie für gerecht erklärt werden, beruht auf seiner Gnade. Es ist sein freies Geschenk aufgrund der Erlösung durch Jesus Christus. Ihn hat Gott vor den Augen aller Welt zum Sühneopfer für unsere Schuld gemacht. Durch sein Blut, das er vergossen hat, ist die Sühne geschehen, und durch den Glauben kommt sie uns zugute. Damit hat Gott unter Beweis gestellt, dass er gerecht gehandelt hatte, als er die bis dahin begangenen Verfehlungen der Menschen ungestraft ließ. Wenn er Nachsicht übte, geschah das im Hinblick auf das Sühneopfer Jesu. Durch dieses hat er jetzt, in unserer Zeit, seine Gerechtigkeit unter Beweis gestellt; er hat gezeigt, dass er gerecht ist, wenn er den für gerecht erklärt, der sein ganzes Vertrauen auf Jesus setzt. (Römer 3,21–26 NGÜ) [4]
„Gerechtigkeit“ gibt hier das griechische dikaiosynē wider. Der Ausdruck „durch sein Blut … ist die Sühne geschehen“ ist kultisch und schlägt eine Brücke zwischen den Opfern am Großen Versöhnungstag (Yom Kippur) und dem Tod Christi am Kreuz. Im letzten Satz korrigiert Paulus den falschen Eindruck, dass Gott, wenn er die Sünden vergangener Generationen ungestraft lässt, ungerecht sei; Christi Sühneopfer beweist vielmehr, dass Gott gerecht ist und den, der an Jesus glaubt, für gerecht erklärt. Mit anderen Worten: Christus hat die Strafe für diese Sünden getragen.
Das obige Zitat steht im Kontext von Paulus‘ Darlegung des Zornes Gottes, der auf die Menschen fällt, weil sie sein Gesetz nicht befolgt haben. Sie haben, wenn Gott sie nach diesem Gesetz richtet, den Tod verdient, sagt Paulus. Die in Römer 3 verkündete Gerechtsprechung des Sünders durch Gott bedeutet, dass das Problem des Zornes Gottes gelöst worden ist. Dies wird in den folgenden Kapiteln des Römerbriefes bestätigt. In Römer 5 kontrastiert Paulus Christus mit Adam:
Wir stellen also fest: Genauso, wie eine einzige Verfehlung allen Menschen die Verdammnis brachte, bringt eine einzige Tat, die erfüllt hat, was Gottes Gerechtigkeit fordert, allen Menschen den Freispruch und damit das Leben. Genauso, wie durch den Ungehorsam eines Einzigen alle zu Sündern wurden, werden durch den Gehorsam eines Einzigen alle zu Gerechten. (Römer 5,18–19 NGÜ)
Rechtfertigung (Für-gerecht-Erklärung) und Verurteilung (Verdammnis) sind juristische Ausdrücke, die hier im Kontext des Gerichtes Gottes verwendet werden. Es ist schwer von der Hand zu weisen, dass der Tod Jesu Christi offenbar eine juristische Funktion hatte: Er hat uns unseren Freispruch vor Gott gebracht. Daher wundert es mich, wenn Sie schreiben: „Ich konnte im ganzen Neuen Testament keine Beispiele finden, wo die juristische Sprache der Strafe, des Gerichtes oder der Verurteilung auf Christus am Kreuz bezogen wird.“ Ich sehe nicht, was an der Ausdrucksweise in Römer 4,25 – „der wegen [griech. dia] unserer Verfehlungen dem Tod preisgegeben wurde und dessen Auferstehung uns den Freispruch bringt“ (NGÜ) – kultisch und nicht juristisch sein soll. Nicht nur ist der Kontext hier juristisch, sondern die Worte selber klingen mir wie die Beschreibung eines Gerichtsurteils (vgl. hier Lukas 23,25, wo es heißt, dass Barabbas „wegen“ (dia) Aufruhr und Mord im Gefängnis war (NGÜ).
Aber vielleicht ist Ihr Problem, dass Sie nirgends in der Bibel die explizite Aussage finden, dass Gott Jesus „bestraft“ hat. Doch eine solche Formulierung ist selbst unter den Anhängern der Lehre vom stellvertretenden Sühnetod umstritten. Manche ziehen es vor, ungefähr so zu formulieren: „Gott hat das Leiden, das die Strafe für unsere Sünden war, auf Jesus Christus gelegt.“ Mit anderen Worten: Jesus hat das Leiden getragen, das, wenn es auf mich gefallen wäre, die Strafe für meine Sünden gewesen wäre. Dies ist immer noch eine stellvertretende Sühne.
Am nächsten zu der Aussage, dass Christus die Strafe für unsere Sünden trug, liegen Passagen wie 1. Petrus 2,24 (Luther): „… der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden.“ Der Ausdruck „die Sünde tragen“ bedeutet im Alten Testament, „entweder die Schuld oder die Strafe für die Sünde tragen.“ [5] Petrus nimmt hier das Bild von dem leidenden Gottesknecht in Jesaja 53 auf, wo es heißt:
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. (Jesaja 53,4–6 Luther)
Die Gegenüberstellung des Gottesknechtes und der hier mit „wir“ bezeichneten Menschen zeigt, dass dieser Knecht an ihrer Stelle für ihre Sünden litt. Wenn das nicht stellvertretendes Leiden ist, was ist es dann? Und die Autoren des Neuen Testaments (ganz zu schweigen von Jesus selber) sehen denn auch in Jesus den leidenden Gottesknecht von Jesaja 53 (vgl. z. B. Apostelgeschichte 8,26–35). Doch, wir haben jeden Grund dafür, den Kreuzestod Jesu als Strafe zu betrachten, die er an unserer Stelle auf sich nahm.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/should-we-think-of-christs-death-in-juridical-terms
[1]
Vgl. Leon Morris, The Atonement (Downers Grove, Ill.: IVP, 1983). Morris bringt nicht nur Kapitel über den jüdischen Opferkult, das Passafest, den Großen Versöhnungstag usw. (die sämtlich kultische Kategorien sind), sondern auch ein Kapitel über die Rechtfertigung, das die Wichtigkeit juristischer Ausdrücke und Kategorien für das Thema „Versöhnung“ unterstreicht.
[2]
Ebd., S. 181.
[3]
Morris zählt im Neuen Testament 92 Vorkommen des Substantivs dikaiosynē („Gerechtigkeit“), 39 Vorkommen des Verbes dikaioō („rechtfertigen“, „für gerecht halten“), 10 des Substantivs dikaiōma („Gerechtsprechung“), 81 des Adjektivs dikaios („gerecht“, „rechtschaffen“) und 5 des Adverbs dikaiōs („zu Recht“, „berechtigterweise“).
[4]
Vgl. zu dieser Bibelstelle D.A. Carson, „Atonement in Romans 3:21-26“, in: Charles E. Hill und Frank A. James III (eds.), The Glory of the Atonement: Biblical, Historical, and Practical Perspectives (Downers Grove, Ill.: InterVarsity Press, 2004), S. 119–139.
[5]
Vgl. die detaillierte Untersuchung von J. Alan Groves, „Atonement in Isaiah 53“, in: The Glory of the Atonement, S. 61–89.
– William Lane Craig