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#482 Wie viele Menschen hat Jesus erlöst?

#482 Wie viele Menschen hat Jesus erlöst?

January 10, 2017

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

vielen, vielen Dank für Ihren Dienst und für Ihren Einsatz für Gottes Reich. Ich freue mich auch, dass Sie sich das Thema der Erlösung durch Jesus Christus vorgenommen haben, denn gerade im vergangenen Schuljahr habe ich mir einige Fragen zu den philosophischen Aspekten der Erlösung gestellt – vor allem des stellvertretenden Sühneopfers Christi am Kreuz. Ich habe versucht, in Büchern Antworten zu finden, aber die meisten der Bücher über das stellvertretende Sühneopfer Christi stammen von reformierten Theologen, und meine Frage an Sie ist, für wie umfassend Sie die Erlösung am Kreuz halten. Wenn sie, wie die Calvinisten glauben, nur für einen Teil der Menschen gilt, ist es doch pervers, wenn Gott uns befiehlt, allen das Evangelium zu bringen, obwohl doch die meisten gar nicht gerettet werden können. Andererseits lautet eines der Hauptargumente gegen eine universale Erlösung, dass diese, wenn man vom Sühneopfer am Kreuz ausgeht, entweder zur Allversöhnung führt oder ungerecht ist, weil ja die Sünden der nicht erlösten Menschen dann doppelt gebüßt werden müssten – erst von Christus und später von dem Betreffenden selber. Wie gehen Sie mit diesem Einwand um? Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Bibel sowohl die stellvertretende Sühne am Kreuz lehrt als auch die Erlösung für alle, weiß aber nicht recht, wie ich diese beiden Dinge zusammenbringen soll.

Vielen Dank im Voraus,

Kolten

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Die Frage, wie umfassend das Sühneopfer am Kreuz ist, ist eine, der ich lieber aus dem Weg gehe, da sie mir zweitrangig zu sein scheint. Ich möchte mich lieber auf die wirklich zentralen Fragen konzentrieren, die die christliche Versöhnungslehre aufwirft. Doch wenn man sich in das Thema einliest, wird man früher oder später mit Ihrer Frage konfrontiert, und so möchte ich hier einige vorläufige Gedanken dazu weitergeben.

Dass Christus buchstäblich nur für die Erwählten gestorben sein soll, ist schier unglaublich. Viel deutlicher als mit den Worten in 1. Johannes 2,2 kann man diese Sicht nicht verneinen: „Er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt“ (Luther). Reformierte Theologen müssen zu erheblichen exegetischen Verrenkungen greifen, um die offensichtliche Bedeutung solcher Bibelverse wegzuerklären.

Was in der Welt kann einen dazu bringen, solche Sätze in der Bibel umzuinterpretieren, um sie mit der Lehre, dass Christus nur für die Sünden der Erwählten und nicht für die aller Menschen starb, vereinbar zu machen? Nun, der Grund ist eine ganz bestimmte theologische Folgerung, die einen zu solch exegetischer Akrobatik zwingt – eine theologische Argumentation, die impliziert, dass die Erlösung am Kreuz nicht für alle gilt.

Die Argumentation verläuft so: Christus hat uns durch seinen Tod am Kreuz unsere Erlösung erkauft, denn er hat den Forderungen der Vergeltungsgerechtigkeit Gottes, die uns für unsere Sünden verurteilt hat, Genüge getan. Da damit das, was Gottes Gerechtigkeit gefordert hat, erfüllt ist, gibt es keine Strafe mehr für unsere Sünden. Christus hat uns am Kreuz nicht bloß eine potentielle Erlösung erworben, sondern die Erlösung ist tatsächlich vollbracht. Was bedeutet: Wenn Christus für alle Menschen starb, müssten eigentlich auch alle gerettet werden; dem ist aber, wie wir aus der Bibel wissen, nicht so.

Ich schätze, Sie stimmen mir zu, dass dies ein recht starkes Argument ist. Aber es ist vom Typ her eine Folgerung, und wenn diese Folgerung zu Ergebnissen führt, die klaren biblischen Aussagen glatt widersprechen, dann müssen wir fragen, ob die Folgerung richtig ist. Wir sollten die Lösung weder in der Allversöhnung noch in der Erlösung nur einiger weniger Erwählter suchen (die beide unbiblisch sind), sondern die theologische Folgerung, von der wir hier reden, hinterfragen.

Ich habe den Eindruck, dass dieses Argument von der zweifelhaften Annahme ausgeht, dass der Kreuzestod Christi unsere tatsächliche und nicht bloß unsere potentielle Erlösung erwirkt hat. Es stimmt: Christus hat die Strafe erlitten, die unsere Sünden verdient hatten, und damit Gottes Gerechtigkeit Genüge getan. Aber damit diese Bezahlung meiner Schuld für mich wirksam wird, muss ich sie aus freien Stücken im Glauben für mich annehmen. Das Ganze ist so ähnlich, als ob Christus eine Riesensumme gezahlt hat, die ausreicht, um die Sünden aller Menschen zu tilgen, die ich dann aber in einem zweiten Schritt in Anspruch nehmen muss, um Nutzen davon haben zu können.

Die reformierten Theologen erkennen diese Wahrheit sogar, wenn sie zwischen vollbrachter und ergriffener [1] Erlösung unterscheiden. Für sie ist unsere Erlösung am Kreuz vollbracht worden, aber dies wird für den Einzelnen erst dadurch Realität, dass er wiedergeboren wird und seinen Glauben auf Christus setzt. Diese Unterscheidung ist notwendig, weil sonst die Erwählten bereits als Erlöste geboren würden! Sie wären keine Minute lang verlorene Sünder, sondern bereits von ihrer Zeugung an gerechtfertigt und gerettet. Aber die Bibel sagt, dass wir „einst … Kinder des Zorns von Natur wie auch die anderen“ waren (Epheser 2,3 Luther), und viele von uns wissen noch, was für ein Leben sie vor ihrer Bekehrung führten. Aber was für einen Sinn soll solch eine Unterscheidung haben, wenn Christus am Kreuz unsere tatsächliche (und nicht nur potentielle) Erlösung errungen hat? Wenn meine Erlösung im Jahre 30 n.Chr. geschah (auch wenn es mich damals noch nicht gab!), wie kann ich dann nicht in jedem Augenblick meiner Existenz erlöst sein? Die unbestreitbare Unterscheidung zwischen vollbrachter und ergriffener Erlösung macht nur dann Sinn, wenn wir sagen, dass Christus mit seinem Tod unsere potentielle Erlösung errungen hat und dass diese potentielle Erlösung im Leben des Einzelnen dadurch real wird, dass dieser Buße tut und glaubt.

Nein, ich sehe hier nicht die Gefahr der doppelten Strafverfolgung wegen derselben Tat vor der Tür lauern, gegen die es im Rechtssystem mancher Länder Vorkehrungen gibt. Es ist nicht so, dass der nicht bußfertige Mensch von Gott zwei Mal für seine Vergehen zur Rechenschaft gezogen würde. Es gibt nur einen Tag des Gerichts, und der Mensch, der die Vergebung, die Christus ihm anbietet, aus freien Stücken abgelehnt hat, wird dann niemanden haben, der für seine Sünden bezahlt.

Finden Sie nicht auch, dass meine Sicht biblisch ist? Im Alten Testament waren die Opfer nichts wert, wenn der Mensch, für den sie dargebracht wurden, nicht ein zerschlagenes und bußfertiges Herz hatte. Und im Neuen Testament sagt Paulus: „Denn alle haben gesündigt, und in ihrem Leben kommt Gottes Herrlichkeit nicht mehr zum Ausdruck, und dass sie für gerecht erklärt werden, beruht auf seiner Gnade. Es ist sein freies Geschenk aufgrund der Erlösung durch Jesus Christus. Ihn hat Gott vor den Augen aller Welt zum Sühneopfer für unsere Schuld gemacht. Durch sein Blut, das er vergossen hat, ist die Sühne geschehen, und durch den Glauben kommt sie uns zugute“ (Römer 3,23–25 NGÜ). Die Menschen, die nicht an Jesus Christus glauben, haben keine Erlösung – aber nicht, weil Christus nicht auch für sie gestorben wäre. Paulus vergleicht Christus mit Adam: „Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt“ (Römer 5,18 Luther). Dieser Satz impliziert nicht die Allversöhnung, da das, was der Tod Christi uns gebracht hat, nur denen zuteil wird, die an ihn glauben. In Römer 6,3–4 beschreibt Paulus, wie der einzelne Gläubige sich in der Taufe (in welcher der Prozess der Bekehrung seinen Ausdruck findet) das, was der Tod Christi bedeutet, ganz persönlich zu eigen macht: „Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln“ (Römer 6,3–4 Luther). Die Erlösung wird dort real und konkret, wo der Einzelne sich durch den Glauben mit Christus identifiziert.

Ich glaube also, dass die theologische Folgerung, die von den Anhängern der Erlösung nur der Erwählten wie von den Anhängern der Allversöhnungslehre vollzogen wird, falsch ist, weil sie in einer Fehlannahme gründet.

Aber nehmen wir einmal an, Sie glauben, dass Christus doch nur für die Erwählten gestorben ist. Bedeutet dies, dass „die meisten gar nicht gerettet werden können“? Ich finde: nein. Es gibt zwei Arten, auf die die Erlösung für jedermann zugänglich sein kann. Erstens: Wenn wir Erlösung als etwas primär Korporatives verstehen, dann kann jeder von uns selber entscheiden, ob er zu der Gemeinschaft der von Christus Erlösten gehören will. Christus ist nur für die Erwählten gestorben, aber jeder, der Buße tut und glaubt, kann zu diesen Erwählten gehören. Und zweitens können wir mit dem mittleren Wissen operieren und sagen, dass Gott von Anfang an gewusst hat, wer die Gnade, die er uns anbietet, annehmen und dadurch gerettet würde, sodass er Christus sandte, um nur für sie zu sterben und nicht für die, die ihn ablehnen würden. Wenn ein unbußfertiger Mensch schließlich doch noch seinen Glauben auf Christus setzen würde, dann hätte Gott ihn mit in den Sühnetod Christi hineingenommen. Damit sind die Erlösung und das, was der Kreuzestod Christi uns bringt, allen Menschen zugänglich, obwohl Christus nur für einige, aber nicht für alle gestorben ist. Diese Version würde auch die Beteuerung der reformierten Theologen erklären, dass Christi Tod die Macht und den Wert hat, alle zu retten. Einmal mehr sehen wir hier die erstaunliche Fähigkeit der Lehre vom mittleren Wissen, zu unerwarteten Durchbrüchen in theologischen Diskussionen zu kommen. Über das mittlere Wissen könnten wir, wenn wir wollten, eine Lehre von der begrenzten Erlösung mit der Erlösung für alle, die sie wollen, verbinden.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/limited-atonement

[1]

En. „accomplished and applied“ – Anm. d. Übers.

– William Lane Craig

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