#490 Jesus und der Gott des Alten Testaments
January 20, 2017
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
zunächst einmal möchte ich Ihnen ganz herzlich für all das danken, was Sie an Antworten und Gedanken zu schwierigen Fragen zu bieten haben. Ich höre Ihnen seit Jahren zu und habe viel gelernt.
Ich bin Christ. Ich glaube an Jesus, und dass er am Kreuz für meine Sünden starb. Zu meiner Schande muss ich jedoch gestehen, dass es mit meinem Bibellesen nicht weit her ist.
Die Evangelien haben mich echt angesprochen. Ich glaube an Jesus, weil ich mich mit seiner Botschaft voll identifizieren kann. Sie macht total Sinn. Die Menschen sind Sünder, wir brauchen einen Erlöser, und dieser Erlöser ist Gott, der auf die Erde kam, um unter uns zu wohnen und uns den einzigen Weg zum Leben zu zeigen, und schließlich am Kreuz starb – und all das, damit wir unsere Selbstgerechtigkeit fahren lassen und ihm folgen.
Jesus ist das große Vorbild, mit dem es niemand in der Welt – egal, ob Mensch oder ein Gott – aufnehmen kann.
Mein Problem liegt in dem, was zeitlich vor den Evangelien liegt. Vor kurzem beschloss ich, die Bibel in einem Jahr zu lesen, nach einem Programm auf einer App. Als ich die fünf Bücher Mose und das Buch Josua durch hatte, war mir klar, dass der Gott, der auf diesen Seiten beschrieben wird, nicht derselbe ist wie Jesus. Dieser Gott bereitet mir Bauchschmerzen.
Es gibt viele Passagen, mit denen ich einfach nicht zurechtkomme, egal, was für Argumente man dafür anführen kann, dass Gott moralisch hinreichende Gründe hat, um bestimmte Dinge nicht nur zuzulassen, sondern sie zu fordern. Nehmen Sie nur den folgenden Abschnitt:
Als nun die Israeliten in der Wüste waren, fanden sie einen Mann, der Holz auflas am Sabbattag. Und die ihn dabei gefunden hatten, wie er Holz auflas, brachten ihn zu Mose und Aaron und vor die ganze Gemeinde. Und sie legten ihn gefangen, denn es war nicht klar bestimmt, was man mit ihm tun sollte. Der Herr aber sprach zu Mose: Der Mann soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen draußen vor dem Lager. Da führte die ganze Gemeinde ihn hinaus vor das Lager und steinigte ihn, sodass er starb, wie der Herr dem Mose geboten hatte. (4. Mose 15,32-36 Luther)
Warum komme ich mit diesem Abschnitt nicht zurecht? Weil Jesus uns im Neuen Testament etwas völlig anderes lehrt als das, was im Alten Testament steht:
Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. (Markus 2,23-27 Luther)
Warum dieser frappierende Unterschied zwischen Jesu Jüngern und dem armen Holzsammler, für den ich nur das größte Mitleid empfinden kann? Wo ist in dieser Szene Gottes Gnade und Vergebung, wo die Liebe des in alle Ewigkeit auch moralisch höchsten Wesens? Dieser Gott ist nicht zu unterscheiden von den anderen Göttern in der Antike, die gerade so handelten wie menschliche Despoten, und er unterscheidet sich auch nicht vom Allah des Korans. Ich habe ehrlich geglaubt, dass Jesus über allen anderen Göttern ist, so ganz anders als Allah; deswegen liebe ich ihn ja so. Aber wenn ich dann von diesem Gott des Alten Testaments lese, bekomme ich ihn und Jesus nicht zusammen und finde, dass es sich unmöglich um denselben Gott handeln kann.
Wenn Jesus und der Gott des Alten Testaments identisch sind, dann irritiert es mich, wie er an einem Punkt der Menschheitsgeschichte ein sehr hartes Gebot einsetzt, nur um es später beiseite zu wischen, ja gegen die Leute vorzugehen, die versuchen, es zu befolgen. Da komme ich nicht mit. Es fällt mir sehr schwer, zu diesem Gott Ja zu sagen, und wenn er und Jesus hier unter einer Decke stecken, dann wird er für mich zu einem berechnenden Betrüger. Erst verhängt er die Todesstrafe, wenn die Juden nicht seinen Willen tun, und dann dreht er den Spieß um und lässt sie dumm dastehen, weil sie die Gebote befolgen, deren Befolgung er mit so eiserner Faust erzwungen hatte.
Es zerreißt mich hier innerlich schier. Wenn Jesus und der Gott des Alten Testaments wirklich identisch sind, dann weiß ich nicht mehr, was ich von ihm glauben soll.
Bitte verstehen Sie mich recht: Wenn ich die Evangelien lese, bin ich ohne jeden Zweifel davon überzeugt, dass Jesus Gott ist. Mein Problem ist, dass ich ihn nicht mehr so sehr lieben kann, wenn er auch der Gott des Alten Testaments ist. Ich suche hier wirklich nach einer Antwort. Ich bin kein Atheist, sodass das moralische Argument hier nichts bringt. Ich glaube auch so an Gott, aber ich habe Zweifel, ob das Alte Testament wirklich Gottes Wort ist.
Hier ein zweites Beispiel aus dem Alten Testament: Josua und Achan in Josua 7. Achan gibt zu, dass er gestohlen hat, worauf er sowie seine ganze Familie, sein Vieh und sein Eigentum gesteinigt und verbrannt werden.
In dieser Geschichte ist Gott offenbar auf Gold und Schätze aus. Er will, dass alles ihm gehört, was mir allzu menschlich vorkommt. Und warum befiehlt er, alle zu töten und zu verbrennen, sogar das Vieh und Achans Verwandte? Wo ist denn da der liebende Gott? Oder der Jesus, der die andere Wange hinhält? Die Kleinlichkeit und der Jähzorn dieses Gottes in Josua 7 gehen mir an die Nieren. Warum hat er nicht Gnade vor Recht ergehen lassen und Achan einfach fortgeschickt? Da komme ich wieder nicht mit.
Wenn Gott so viele Menschen wie möglich retten will, warum vermasselt er dann alles, indem er sich gerade so benimmt wie Allah oder jeder andere tobende, zornige, gnadenlose, hassende Gott, der gerade so schlimm ist wie die Menschen?
Ich habe hier ein echtes Problem, Dr. Craig. Ich hoffe, diese Frage ist nicht zu lang für Sie. Aber der moralische Gottesbeweis hilft mir hier nicht weiter. Ich glaube ja schon an Gott und damit auch an ewige moralische Grundwerte etc. Ich weiß nur nicht, wie ich den Gott des Alten Testaments und Jesus unter einen Hut bringen soll, und ich merke, wie das anfängt, mich von Jesus wegzubringen. Ich merke, wie ich eine richtige Wut kriege auf diesen Gott des Alten Testaments. Wenn wir durch den Glauben an Jesus und durch seine Gnade erlöst werden, sind wir dann immer noch erlöst, wenn es uns schockiert, wie Gott im Alten Testament rüberkommt?
Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll!
Gott segne Sie, und danke im Voraus für Ihre Antwort, egal, wie sie ausfällt.
Sam
United Kingdom
Prof. Craigs Antwort
A
Sam, ich hatte meine Antwort auf Ihren Brief schon fertig geschrieben und alle philosophischen Probleme in ihm beantwortet, aber als ich fertig war, dachte ich: Sein eigentliches Problem hast du ja gar nicht angesprochen. Meine Antworten gingen nicht tief genug und hätten Sie wahrscheinlich kalt gelassen. Und so fange ich noch einmal an – weil Sie, wie ich glaube, eigentlich kein intellektuelles Problem haben, sondern ein emotionales.
Bevor ich erkläre, warum das so ist, lassen Sie mich eine Sache klarstellen: Es gibt keinen Widerspruch zwischen Jesus und dem Gott des Alten Testaments. Die Bibelstellen, die Sie zitieren, kannte Jesus gut. Der Gott, den er seinen himmlischen Vater nannte und dessen Reich er verkündete, war genau dieser Gott des Alten Testaments. Jesus sah keinen Konflikt zwischen dem Gott des Alten Testaments und dem Gott, den er selber liebte und dem er diente.
Aber jetzt zu dem Satz in Ihrem Brief, der mir echt Sorgen macht: „Ich merke, wie ich eine richtige Wut kriege auf diesen Gott des Alten Testaments. Wenn wir durch den Glauben an Jesus und durch seine Gnade erlöst werden, sind wir dann immer noch erlöst, wenn es uns schockiert, wie Gott im Alten Testament rüberkommt?“ Natürlich sind Sie nach wie vor erlöst, Sam, trotz dieser Verbitterung, die Sie da spüren. Aber wenn diese Verbitterung ungehindert wachsen kann, wird sie Sie innerlich kaputtmachen.
Sie scheinen ein sensibles Herz zu haben, Sam, aber ich frage mich, ob Sie nicht eine etwas einseitige Vorstellung von Gott haben. Gottes Gnade und Güte gefällt Ihnen, aber Sie scheinen keinen Sinn für seine Größe und Heiligkeit zu haben. Ist Ihnen nicht klar, wie strahlend rein Gott ist und wie schmutzig dagegen die Sünde? Gottes moralische Vollkommenheit ist wie ein gleißendes Licht, das unsere Augen nicht ertragen. Als Mose darum bat, Gott sehen zu können, sagte Gott ihm: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (2. Mose 33,20 Luther). Er erlaubte es ihm schließlich, seine Herrlichkeit von hinten zu sehen.
Als Jesaja seine gewaltige Gottesvision im Tempel hat und die Serafim singen hört: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“, was ist seine Reaktion? „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen“ (Jesaja 6,5 Luther). Gottes Heiligkeit deckt Jesajas Unreinheit und Sündhaftigkeit auf. Und so ist es mit jedem Menschen, egal wie „gut“ er nach menschlichen Maßstäben ist. Selbst ein tadelloser Frommer wie Hiob muss Gott bekennen: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche“ (Hiob 42,5-6 Luther). Vor Gottes vollkommener Gerechtigkeit „sind wir alle wie die Unreinen, und all unsre Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid“ (Jesaja 64,5 Luther).
All dies bedeutet, dass wir von Gott eigentlich nichts „verdient“ haben als seine gerechte Verurteilung. Lesen Sie dazu einmal die ersten Kapitel des Römerbriefes. In Römer 3,9-12 (Luther) fasst Paulus, Psalm 14,1-3 zitierend, unsere Situation vor Gott so zusammen,
dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind, wie geschrieben steht: „Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer. Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt. Sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.“
Alle Menschen stehen unter Gottes Urteil und Zorn.
Die Stellen im Alten Testament, die Ihnen solche Probleme bereiten, wollen in diesem Licht gelesen werden. Die große Frage ist: Wie kann ein Gott, der absolut heilig und rein ist, inmitten eines unreinen, sündigen Volkes wohnen? So wie Licht die Finsternis vertreibt, so kann das Böse sich in Gottes Gegenwart nicht halten. Wie war es Gott möglich, das Volk Israel zu erwählen und in seiner Mitte zu wohnen und es zu führen? Bei meinem Studium der biblischen Versöhnungslehre entdeckte ich, dass die alttestamentliche „Übergangslösung“ in dem von Gott eingesetzten Opferkult bestand. Der Gläubige identifizierte sich mit dem Opfertier, das er kaufte. Das Töten dieses Tieres symbolisierte somit seinen eigenen Tod, und sein Blut reinigte den Gläubigen symbolisch von seiner Unreinheit und Schuld, sodass Gott in dem Volk wohnen konnte, ohne es zu vernichten.
Sie fragen zu der Stelle in 4. Mose 15: „Wo ist in dieser Szene Gottes Gnade und Vergebung, wo die Liebe des in alle Ewigkeit auch moralisch höchsten Wesens?“ Die Antwort ist, dass Gott allein schon dadurch, dass er das Volk Israel (einschließlich des Mannes, der am Sabbat Holz sammelte, und Achans und seiner Familie) existieren ließ, seine Vergebung, Güte und Liebe demonstrierte. Diese Menschen hatten genauso wenig wie wir das Recht, auch nur noch einen Atemzug zu tun in der Gegenwart eines heiligen Gottes. Sie verdienten nichts als seinen Zorn, aber in seiner Gnade berief er sie dazu, sein Volk zu sein.
Die von Ihnen zitierten Textstellen stammen aus der Frühzeit Israels, als Gott das Volk aus Ägypten herausführte, um es in das Land der Verheißung zu bringen. Das Opfersystem war noch im Entstehen begriffen, und Israel war ein theokratisches Volk, dessen direkter Herrscher Gott war. Um Israel zu seinem Volk zu machen und letztlich das Kommen des Messias Jesus und die Erlösung der Welt vorzubereiten, zog Gott dem Volk gewisse Grenzen, die sicherstellen sollten, dass es sich nicht an die heidnischen Völker, in deren Mitte es wohnte, anpasste. Dazu musste er manchmal hart durchgreifen, wie in den von Ihnen beanstandeten Szenen.
Und jetzt wird es doch noch philosophisch. Diese Bibelstellen stellen uns also vor emotionale Probleme. Aber auch vor intellektuelle. Unser Herz schreckt vor der Härte in diesen Szenen zurück, aber unsere grauen Zellen konstatieren, dass Gott, wie er hier dargestellt wird, Dinge tut, die für uns unmoralisch sind – und da Gott moralisch vollkommen ist, scheinen wir hier vor einem Widerspruch zu stehen.
Und hier möchte ich Sie bitten, Sam, meine Antwort in Q&A 16 zu lesen, wo ich eine ethische Theorie des göttlichen Befehls vortrage, die, wie ich glaube, diesen scheinbaren Widerspruch auflöst. Nach dieser Theorie gründen moralische Werte in Gott selbst als einem vollkommen guten Wesen, und seine Gebote für uns sind unsere moralischen Pflichten. Ich kenne keine andere Theorie der objektiven moralischen Werte und Pflichten, die genauso plausibel wäre.
Doch diese Theorie hat Konsequenzen, die nicht einfach zu verdauen sind. Da Gott keine Gebote gegenüber sich selber ausspricht, hat er auch keine moralischen Pflichten, die er erfüllen müsste, d.h. er unterliegt keinen moralischen Verpflichtungen oder Verboten. Er kann tun, was er will, solange dies mit seinem eigenen vollkommen guten Wesen übereinstimmt. Gott kann uns Dinge befehlen, die ohne sein ausdrückliches Gebot Sünde wären, wie z. B. die Auslöschung (oder, besser, Vertreibung) der Kanaaniter durch die Israeliten (s. Q&A 225, wo ich versuche, die Gründe für Gottes Befehle darzulegen).
Mir kommen der Fall mit dem Sabbatbrecher und der Fall Achan ähnlich vor. Damals war es von der größten Wichtigkeit, dass die Israeliten es lernten, anders zu sein als die Anhänger der heidnischen Religionen; daher all die Reinheitsgebote, die Sabbatgesetze, die heiligen Gegenstände, die Dinge, die Gott geweiht waren, usw. Die strikte Durchsetzung all dieser Regeln diente der Bewahrung Israels und der wahren Religion im Meer der heidnischen Nachbarvölker.
Wie Sie ganz richtig bemerken, waren diese Regeln und Gebote für einen ganz bestimmten Abschnitt der Geschichte gedacht. Wie Paul Copan in seinem Buch Is God a Moral Monster? betont, waren sie zeitlich begrenzt und provisorisch. Es waren keine zeitlosen ethischen Wahrheiten. Jesus hat etliche von ihnen außer Kraft gesetzt, und Christen sind nicht an sie gebunden. Sie galten speziell für das damalige Israel.
Ich verstehe nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass die zeitliche Gebundenheit der alttestamentlichen Gesetze Gott zu einem „berechnenden Betrüger“ macht. Sie schreiben: „Erst verhängt er die Todesstrafe, wenn die Juden nicht seinen Willen tun, und dann dreht er den Spieß um und lässt sie dumm dastehen, weil sie die Gebote befolgen, deren Befolgung er mit so eiserner Faust erzwungen hatte.“ Das sehen Sie falsch, Sam! Paulus nennt das Alte Testament unseren Erzieher (Galater 3,24), der uns zu Christus führen soll. Die Menschen des Alten Testaments waren an die Gebote gebunden, die Gott ihnen damals gegeben hatte, so wie wir denen verpflichtet sind, die wir heute haben. Die Juden im alten Israel, die treu Gottes Gebote befolgten, standen mitnichten dumm da, denn diese Gebote waren ihre moralischen Pflichten. Seit der Messias gekommen ist, haben wir diese Pflichten so nicht mehr (Gott sei Dank!).
Sie fragen bezüglich der beiden Szenen mit dem Sabbat: „Warum dieser frappierende Unterschied zwischen Jesu Jüngern und dem armen Holzsammler?“ Der Unterschied kommt dadurch zustande, dass Christus gekommen ist, um uns von dem Fluch des Gesetzes zu befreien, indem er ihn auf sich nahm. Natürlich können Sie Mitleid mit dem Holzsammler haben, aber bedenken Sie bitte, dass dieser Mann den Sabbat möglicherweise ganz bewusst gebrochen hat, nach dem Motto: „Am Sabbat kriegt es keiner mit, wenn ich etwas Extraholz nur für mich sammele.“ Gottes harte Reaktion war eine Lektion für den Rest des Volkes.
Die Sache mit Achan haben Sie missverstanden. Gott ist nicht hinter Gold und Schätzen her, ihm gehört ja sowieso alles. Es geht vielmehr auch hier um ein Stück Anschauungsunterricht in Sachen „Israel und die Heiden“. So wie im israelitischen Opferkult ein Brandopfer komplett verbrannt werden musste, um zu zeigen, dass es allein Gott gehörte, war hier die Beute vollständig zu verbrennen. Achan hatte sich schwer vergangen; er hatte Gott bestohlen.
Sie schreiben: „Wo ist denn da der liebende Gott? Oder der Jesus, der die andere Wange hinhält?“ Nun, Gott hatte mehr als ein Mal die andere Wange hingehalten, indem er Israel das Leben gönnte und in seiner Mitte wohnte. Aber in dieser Situation musste er andere Saiten aufziehen. Sie beklagen sich: „Die Kleinlichkeit und der Jähzorn dieses Gottes in Josua 7 gehen mir an die Nieren. Warum hat er nicht Gnade vor Recht ergehen lassen und Achan einfach fortgeschickt?“ Es gibt keinen Grund, hier von Kleinlichkeit und Jähzorn zu reden. Achans Sünde war sehr ernst, und wenn Gott beide Augen zugedrückt hätte, hätte dies sein Werk der Gründung der Nation Israel schwer beschädigen können. Gott hat das Recht, nach seinem Gutdünken Leben zu geben und zu nehmen, und das harte Gericht an Achan und seiner Familie war ein Stück Anschauungsunterricht für jeden Israeliten, dass man mit Gott nicht spaßen kann. Es war eine Maßnahme, um Israel auf dem rechten Weg zu halten.
Mir ist klar, Sam, dass Ihnen all dies auf der emotionalen Ebene womöglich total zuwider ist. Kann sein, dass Ihnen der Weihnachtsmann lieber ist als das größte vorstellbare Wesen, das in seiner moralischen Reinheit und Gerechtigkeit absolut ist. Aber überlegen Sie einmal: Nur auf dem Hintergrund des Zornes Gottes gelangen wir zu einer tieferen Erkenntnis der Liebe Gottes, die mehr ist als schöne Sentimentalität. Wir Christen – so schreibt Paulus in Epheser 2,3-5 (Luther) – „waren Kinder des Zorns von Natur wie auch die andern. Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht …“ Erst dann, wenn uns aufgegangen ist, wie schmutzig wir im Vergleich zu Gott sind, fangen wir an, seine Liebe zu uns ein Stück weit zu verstehen. Erst dann, wenn wir bekennen, dass wir nichts von ihm verdient haben als seinen Zorn und sein Verdammungsurteil, fängt die ganze Größe seiner Gnade und Barmherzigkeit an, uns aufzugehen. Erstaunlich, aber wahr: Unser Gottesverständnis, ja unser Verständnis seiner Liebe kann gerade dadurch reicher und tiefer werden, dass wir uns seine Heiligkeit vor Augen führen.
Lassen Sie mich mit dem Zitat einer bemerkenswerten Textpassage schließen, die ich während meines Studiums der Versöhnungslehre in den Institutio Theologiae Elencticae (16.2) des italienischen reformierten Theologen Franciscus Turretinus fand. Hier beschreibt dieser sonst so reserviert-intellektuell schreibende Mann aus den Tiefen seines Herzens die Gerechtigkeit Christi, die Gott uns zurechnet:
Dies wird deutlicher, wenn wir zu der Sache selber kommen und die Debatte nicht gleichsam aus der Ferne kalt und gefühllos in den Staubwolken der Gelehrtenstuben führen, sondern in Ringen und Schmerz. Wenn das Gewissen vor Gott steht, zitternd in dem Bewusstsein der Sünde und der göttlichen Gerechtigkeit, sucht es nach einem Weg, im Gericht bestehen zu können und vor dem kommenden Zorn zu fliehen. In den schattigen Laubengängen der Schulen plaudert es sich leicht über den Wert der innwohnenden Gerechtigkeit und Werke für die Rechtfertigung des Menschen; aber wenn wir vor Gottes Thron treten, müssen wir dergleichen Lappalien fahren lassen, denn dort wird es ernst und ist kein Platz mehr für lächerliche Streitereien über Worte. … Unter den Menschen können wir uns wohl vergleichen; da glaubt jeder, dass er etwas zu bieten habe, das einen Wert hat. Aber wenn wir vor das himmlische Gericht treten und unseren Blick auf den Höchsten Richter richten (und zwar nicht so, wie unser menschlicher Verstand ihn sich vorstellt, sondern so, wie die Heilige Schrift ihn uns beschreibt [nämlich als den, vor dessen strahlendem Licht die Sterne verblassen, vor dessen Kraft die Berge schmelzen, dessen Zorn die Erde beben lässt, dessen Gerechtigkeit noch nicht einmal die Engel ertragen können, der den Schuldigen nicht unschuldig macht und dessen Rache, einmal geweckt, bis in die tiefsten Schlünde der Hölle reicht]), dann fällt in einem Augenblick alle törichte Zuversicht der Menschen dahin, und das Gewissen muss, was immer es auch vor den Menschen über seine Gerechtigkeit hinausposaunt haben mag, in Sack und Asche bekennen, dass es nichts hat, mit dem es vor Gott bestehen könnte.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/jesus-and-the-god-of-the-old-testament
– William Lane Craig