#499 Es braucht eine vielschichtige Versöhnungslehre
January 20, 2017
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
danke für Ihre philosophische und apologetische Arbeit. Ich habe viel von Ihnen gelernt und freue mich, dass Sie sich zurzeit mit der Versöhnungslehre befassen.
Ich habe den Eindruck, dass bis jetzt noch keine Theorie formuliert worden ist, die sämtlichen Aspekten der Versöhnung durch Christus gerecht wird. So scheint mir die Theorie der stellvertretenden Sühne bei Paulus notwendig, aber nicht hinreichend für eine vollständige Versöhnungslehre zu sein. Sie erklärt, zum einen (1), dass Christus anstelle der sündigen Menschen gestorben ist, und zum anderen (2), dass damit den Forderungen der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan worden ist. Aber sie berücksichtigt nicht hinreichend Leben, Wirken und Lehre Christi und auch nicht die Wichtigkeit der Heiligung als Teil der Versöhnung. Und indem sie besagt, dass Christus die Strafe trug, die wir für unsere Sünden verdient haben und die wir hätten tragen müssen, wäre Christus nicht für uns in die Bresche gesprungen, scheint sie zu implizieren, dass die gerechte Strafe für die Sünde nicht einfach der Tod ist, sondern der Tod durch Kreuzigung. Die Theorie vom moralischen Einfluss [1] behandelt das Leben, das Wirken und die Lehre Christi und ist für das Thema „Heiligung“ relevant, aber scheint nicht hinreichend in Bezug auf (1) und (2) zu sein. Und so weiter.
Und jetzt meine Frage: Warum starb Jesus ausgerechnet am Kreuz?
Erklärungsversuche wie die Lehre von der stellvertretenden Sühne oder die „Governmental Theory“ erklären den Sühnetod Jesu, scheinen mir aber keine Begründung dafür zu liefern, warum dieser Tod die Form der Kreuzigung haben musste. Die Kreuzigung (mit vorangehender Auspeitschung, Schlägen, Verhöhnung etc.) ist eine der brutalsten Arten der Todesstrafe. Jesus hätte auf hundert andere Arten sterben können, viele davon weniger brutal.
Theorien wie die die vom moralischen Einfluss, „Christus Victor“ und die „Recapitulation Theory“ scheinen mir Material zur Beantwortung dieser Frage bereitzustellen. Eine Kombination dieser Theorien mit der Theorie von der stellvertretenden Sühne könnte zu einer umfassenderen Versöhnungslehre führen. (Ich habe den Eindruck, dass Bibelstellen wie Kolosser 2,14-15 sowohl den Stellvertretungsaspekt des Todes Christi als auch den Siegesaspekt und die Zentralität des Kreuzes in den Blick nehmen.)
Sind Sie in Ihrer Arbeit schon dem Grund dafür nachgegangen, warum Christus ausgerechnet am Kreuz starb?
Elliott
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Jedem Studenten der biblischen Versöhnungslehre fällt rasch die Fülle von Bildern und Begriffen auf, mit denen die Verfasser der Bibel die Versöhnung beschreiben: Sühneopfer, der leidende Gottesknecht, Rechtfertigung, Lösegeld, Erlösung, Stellvertretung usw. Es gibt keinen Grund, warum unsere Theorie von der Versöhnung diese Vielfalt nicht widerspiegeln sollte; im Gegenteil: Jede Theorie, die diese Lehre auf nur einen dieser Aspekte zu reduzieren versucht, wird automatisch wichtige Merkmale einer umfassenden Versöhnungslehre außen vor lassen.
Man hat die biblische Versöhnungslehre mit einem Edelstein verglichen, der viele Facetten hat. Die verschiedenen Aspekte dieser Lehre, wie die stellvertretende Sühne oder der moralische Einfluss, wollen nicht als je eigene, vollständige Versöhnungslehre begriffen werden, sondern als Bestandteile einer umfassenderen Versöhnungslehre, die viele Facetten hat. Es spricht daher nicht gegen eine bestimmte Auffassung von der Versöhnung, dass diese gewisse biblische Fakten nicht so gut erklärt wie andere Auffassungen; die biblischen Fakten und Aussagen können nur von der Gesamtlehre erklärt werden, und nicht von einer absolut gesetzten Teillehre.
Doch jeder gut geschliffene Edelstein hat typischerweise eine Zentralfacette (die sog. „Tafel“), die die anderen Facetten dominiert, und so ist es auch bei der Versöhnungslehre. Ich bin davon überzeugt, dass die stellvertretende Sühne die „Tafel“ in einer umfassenden Versöhnungslehre sein muss, die ihrem Gegenstand gerecht wird, denn die stellvertretende Sühne ist das Fundament, auf dem viele der anderen Aspekte der Versöhnung (wie die Erlösung von der Sünde, die Zufriedenstellung der Gerechtigkeit Gottes und der moralische Einfluss Christi) aufbauen. Doch alles soll die „Tafel“ des Juwels nicht erklären.
Die großen Versöhnungstheoretiker wie Anselm von Canterbury und Hugo Grotius waren sich dieser Tatsache wohlbewusst. Bei Anselm ist die Zufriedenstellung der Gerechtigkeit Gottes die „Tafel“ seiner umfassenden Versöhnungslehre, doch diese Lehre berücksichtigt auch zentrale Elemente der Lösegeldlehre, darunter den Sieg Gottes über Satan (Cur Deus homo I.23; II.9), sowie Elemente der späteren Lehre vom moralischen Einfluss; so sieht Anselm im Leiden Christi ein großes Vorbild für das mutige Ertragen von Folter und Tod (Cur Deus homo II.11,18b). Und bei Grotius ist die „Tafel“ die stellvertretende Sühne, aber ein wichtiger Teil seiner Lehre ist auch, dass Gott uns mit dem Leiden und Tod Christi vor Augen führen will, wie furchtbar die Sünde ist und wie groß Gottes Liebe zu uns Menschen (Verteidigung des allgemeinen Glaubens Faith IV).
Auf der Basis der stellvertretenden Sühne ist die Lehre vom moralischen Einfluss absolut stimmig; ohne sie wird sie abartig. In seinem klassischen Werk The Atonement sinniert der Philosoph und Theologe R.W. Dale: „Wenn mein Bruder todesmutig in ein Haus ginge, das lichterloh in Flammen steht, um mein Kind zu retten, und dabei selber umkäme, dann wäre das ein wunderbarer Beweis für seine Liebe zu mir und den Meinen. Aber wenn in dem Haus gar kein Kind wäre und man mir erzählte, dass er in das brennende Haus gegangen und dort umgekommen sei, um so seine Liebe zu mir zu demonstrieren – diese Erklärung würde absolut keinen Sinn ergeben.“ [2] Der Tod Christi für unsere Sünden ist eine Quelle moralischen Einflusses auf die Menschheit, die dazu beiträgt, Menschen zum Glauben an Christus zu führen und in diesem Glauben auch in Anfechtungen, ja sogar im Martyrium, standhaft zu bleiben.
Das moralische Vorbild, das im Leiden und Kreuzestod Jesu für die Menschheit liegt, ist von unschätzbarem Wert. Der in Literatur und Kunst so vieltausendfach dargestellte Kreuzestod Christi hat mehr noch als seine Lehre und sein Wesen Jesus von Nazareth für Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen zu einem absoluten Magneten gemacht; zahllosen Christen hat er die Kraft gegeben, furchtbares Leiden, ja den Tod mutig und gläubig zu ertragen. Als eine von mehreren Facetten einer umfassenden Versöhnungslehre, deren „Tafel“ die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod ist, leistet die Theorie vom moralischen Einfluss mithin einen wertvollen Beitrag zum Verständnis dessen, was der Tod Christi für die Menschen bedeutet und wie sie sich dies zu eigen machen können.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/the-need-for-a-multi-faceted-atonement-doctrine
[1]
En. „Moral Influence Theory“ – Anm. d. Übers.
[2]
R.W. Dale, The Atonement, 9th ed. (London: Hodder & Stoughton, 1884), S. liv. Vgl. James Denney, The Death of Christ: Its Place and Interpretation in the New Testament (London: Hodder and Stoughton, 1907), S. 177.
– William Lane Craig