#495 Was lehrt die Bibel über Gott und die Zeit?
January 20, 2017
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
ich habe ein paar Fragen zum Thema „Ewigkeit und Gott“. Ich habe gehört, dass Sie die Sicht vertreten, dass Gott „vor“ der Schöpfung zeitlos war und seit der Schöpfung in der Zeit ist.
Kann man es biblisch begründen, dass Gott vor der Schöpfung (bzw. als diese noch nicht existierte) zeitlos war? Ich stelle diese Frage, weil ich glaube, dass die Bibel eine Zeit „vor der Schöpfung“ erwähnt, z. B. wenn sie in 1. Petrus 1,20 oder Johannes 17,24 von dem Messias spricht, der vor der Erschaffung bzw. Grundlegung der Welt von Gott ausersehen und geliebt war, oder in Sprüche 8 von der Weisheit, die schon vor der Erschaffung der Welt existierte. Gibt es einen Grund dafür, NICHT anzunehmen, dass die Bibel Gott als von aller Ewigkeit her existierend sieht (in dem Sinne, dass die Zeit schon vor der Schöpfung und möglicherweise schon immer zusammen mit Gott existierte)?
Oder gibt es, wieder von der Bibel her, einen Grund für die Annahme, dass Gott seit der Schöpfung durch die Zeit begrenzt ist, d.h. nicht „gleichzeitig“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existiert? Oder ist das eher eine Meinung einiger Philosophen?
Wie denken Sie über den Himmel als die ewige Wohnung Gottes (von der aus Jesus, der zur Rechten des Vaters sitzt, herrscht)? Und wie passen die tausend Jahre, die wie ein Tag sind (2. Petrus 3,8), in die ganze Sache hinein? Gibt es lediglich einen Unterschied zwischen der Art, wie wir die Zeit empfinden und wie Gott das tut, oder gibt es einen realen Unterschied zwischen dem Himmel und der physischen Welt bzw. der Erde?
Chavoux
Namibia
Prof. Craigs Antwort
A
es ist schön, von einem unserer afrikanischen Leser zu hören, Chavoux! Ich habe Ihre Fragen in meinem Buch Time and Eternity behandelt, das Ihnen aber möglicherweise nur schwer zugänglich ist.
1. „Kann man es biblisch begründen, dass Gott vor der Schöpfung (bzw. als diese noch nicht existierte) zeitlos war?“ Jawohl! Der deutsche Theologe Johannes Schmidt vertritt aufgrund von Schöpfungstexten wie 1. Mose 1,1 und Sprüche 8,22-23 eine biblische Lehre der Zeitlosigkeit Gottes. [1]
In 1. Mose 1,1 heißt es: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ [2] James Barr hält es für gut möglich, dass dieser absolute Anfang, zusammen mit der Formulierung „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag“ (Vers 5), zeigen soll, dass es sich nicht nur um den Anfang des physischen Universums handelt, sondern um den Anfang der Zeit, womit man sich Gott folglich als zeitlos existierend vorstellen kann. [3] Auch gewisse Autoren des Neuen Testaments kann man so verstehen, dass sie in 1. Mose 1,1 den Anfang der Zeit sehen. Die wichtigste neutestamentliche Stelle ist hier natürlich der Prolog des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist“ (Johannes 1,1-3). Hier ist das unerschaffene Wort (Logos), die Quelle aller erschaffenen Dinge, bereits im Augenblick der Schöpfung bei Gott, ja es ist Gott. Es ist nicht schwierig, in diesen Versen das zeitlose Einssein des Wortes mit Gott zu sehen; eine solche Deutung wäre auch nicht anachronistisch, bedenkt man die Logos-Lehre des jüdischen Philosophen Philon (1. Jahrhundert n.Chr.), für den die Zeit mit der Schöpfung beginnt. [4]
Auch Sprüche 8,22-23 kann man gut im Sinne eines Beginns der Zeit verstehen. Hier sagt die als Frau personifizierte Weisheit:
Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege,ehe er etwas schuf, von Anbeginn her.Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her,im Anfang, ehe die Erde war.
Diese Verse, die ohne Zweifel auf 1. Mose 1,1 zurückschauen, sind voller Zeitausdrücke, die von einem Anfang sprechen. R.N. Whybray kommentiert:
Man beachte, wie der Autor … so darauf bedacht ist, dem Leser das unvorstellbare Alter der Weisheit vor Augen zu führen, dass er in einer wahren Flut von Tautologien alle vorhandenen Synonyme mobilisiert: re’sît („Anfang“), qedem („der Erste“), me ’az („von alters her“), me ‘olam („vor Urzeiten“), mero ‘s („am Anfang“ oder „von Anfang an“, vgl. Jesaja 40,21; 41,4.26), miqqade me ‘ares („vor Beginn der Erde“). Was betont wird, ist nicht so sehr die Art, wie die Weisheit zu existieren begann, … sondern die Tatsache ihres unerhörten Alters. [5]
Doch diese Wendungen betonen nicht bloß das Alter der Weisheit, sondern dass es einen Anfang gab, einen Ausgangspunkt, an welchem bzw. vor welchem die Weisheit existierte. Dies war ein Ausgangspunkt nicht nur für die Erde, sondern auch für die Zeit und die Zeitalter; es war der Anfang. So wurde dieser Abschnitt auch von anderen antiken Autoren verstanden. Die Septuaginta (die griechische Übersetzung des Alten Testaments) gibt das me ‘olam in Sprüche 8,23 mit pro tou aionios („vor der Zeit“) wieder, und in Sirach 24,14 sagt die Weisheit: „Vor der Welt, im Anfang bin ich geschaffen und werde ewig bleiben.“
Auch manche Stellen im Neuen Testament scheinen von einem Anfang der Zeit zu sprechen. So lesen wir in Judas 25: „Dem alleinigen Gott, unserm Heiland, sei durch Jesus Christus, unsern Herrn, Ehre und Majestät und Gewalt und Macht vor aller Zeit, jetzt und in alle Ewigkeit“ (pro pantos tou aionos kai nun kai eis pantas tous aionas). Dieser Satz denkt an eine nicht aufhörende Zukunft, aber betont gleichzeitig einen Anfang der Zeit und impliziert dabei fast zwangsläufig die Existenz Gottes vor der Zeit. Ähnliche Formulierungen finden wir in zwei höchst interessanten Passagen in den Pastoralbriefen. In Titus 1,2-3, einer Stelle voller Zeitausdrücke, lesen wir von denen, die Gott erwählt hat „in der Hoffnung auf das ewige Leben (zoes aioniou), das Gott, der nicht lügt, verheißen hat vor den Zeiten der Welt (pro chronon aionion), aber zu seiner Zeit (kairois idiois) hat er sein Wort offenbart …“ Und in 2. Timotheus 1,9-10 lesen wir von Gottes „Ratschluss“ und „Gnade“, „die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt (pro chronon aionion), jetzt (nun) aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus …“ Arndt und Gingrich geben pro chronon aionion mit „bevor die Zeit begann“ wieder. [6] Ähnlich spricht Paulus in 1. Korinther 2,7 von einer verborgenen Weisheit Gottes, „die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit (pro ton aionon) zu unserer Herrlichkeit.“
Solche Formulierungen finden sich auch in der Septuaginta, die Gott als den beschreibt, „der vor den Zeiten (ho hyparchon pro ton aionon) existiert“ (Septuaginta Psalm 54,20 [= 55,20]). Dass solche pro-Konstruktionen wörtlich zu verstehen sind und nicht bloß als Umschreibungen für „lange Zeiträume“ (vgl. Römer 16,25: chronos aioniois), wird bestätigt durch die zahlreichen ähnlichen Formulierungen, wo es um Gott und seinen Ratschluss „vor Grundlegung der Welt“ (pro kataboles kosmou) geht (Johannes 17,24; Epheser 1,4; 1. Petrus 1,20; vgl. Offenbarung 13,8). Ganz offensichtlich wurde damals die in 1. Mose 1,1 beschriebene Schöpfung so verstanden, dass der Anfang der Welt zusammenfiel mit dem Anfang der Zeit bzw. der Zeitalter, und da Gottes Existenz nicht erst im Augenblick der Schöpfung begann, existierte er folglich bereits „vor“ dem Beginn der Zeit. Wir müssen uns Gott mithin mindestens „vor“ der Schöpfung als atemporal vorstellen.
2. „Oder gibt es, wieder von der Bibel her, einen Grund für die Annahme, dass Gott seit der Schöpfung durch die Zeit begrenzt ist, d.h. nicht ‚gleichzeitig‘ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existiert?“ Die Antwort ist auch hier „ja“. Die biblischen Autoren stellen Gott typischerweise als jemanden dar, der innerhalb der Zeit agiert (also z. B. die Zukunft vorherweiß oder sich an Vergangenes erinnert), und wenn sie direkt über Gottes ewige Existenz reden, betonen sie seine Anfanglosigkeit und unbegrenzte Fortdauer: „Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Psalm 90,2). „Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt“ (Offenbarung 4,8). Nur im Kontext der Lehre von der Schöpfung deuten die Verfasser der Bibel an, dass Gott nicht buchstäblich innerhalb der Zeit ist.
3. „Wie denken Sie über den Himmel als die ewige Wohnung Gottes (von der aus Jesus, der zur Rechten des Vaters sitzt, herrscht)?“ Ich sehe keinen Grund für die Annahme, dass der Himmel zeitlos ist. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass Christus zum Himmel aufgefahren ist, zeigt, dass dieser nicht zeitlos ist; es gab eine Zeit, wo Christus noch nicht aufgefahren war, und danach eine, wo er aufgefahren war.
„Wie passen die tausend Jahre, die wie ein Tag sind (2. Petrus 3,8), in die ganze Sache hinein?“ Dieser Bibelvers ist bezüglich unseres Themas neutral; er besagt lediglich, dass für jemanden, der ohne Anfang und Ende ist, die Dauer der Zeit auf der Erde unwichtig ist. Und „gibt es lediglich einen Unterschied zwischen der Art, wie wir die Zeit empfinden und wie Gott das tut, oder gibt es einen realen Unterschied zwischen dem Himmel und der physischen Welt bzw. der Erde?“ Hier ist das Erstere der Fall; die Menge der Zeit spielt für ein ewiges Wesen keine Rolle.
Also: Die biblischen Autoren sehen Gott meistens als temporal und von ewiger Dauer, aber manches deutet darauf hin, dass wir dann, wenn wir Gott in Relation zur Schöpfung betrachten, ihn als den transzendenten Schöpfer der Zeit und der Zeitalter sehen müssen und somit als jenseits der Zeit existierend. Es ist gut möglich, dass die Autoren der Bibel im Kontext der Lehre von der Schöpfung über Gottes Beziehung zur Zeit nachdachten und dazu kamen, seine Transzendenz zu betonen. Aber der Befund ist nicht eindeutig, sodass wir wohl mit Barr sagen müssen, dass „dann, wenn die Entwicklung einer christlichen Lehre von der Zeit notwendig sein sollte, dies eine Aufgabe nicht für die biblische, sondern für die philosophische Theologie ist.“ [7]
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/scriptural-teaching-on-god-and-time
[1]
Johannes Schmidt, Der Ewigkeitsbegriff im Alten Testament (Münster in Westfalen: Verlag der Aschendorffschen Verlagsbuchhandlung, 1940), S. 31f. (Reihe Alttestamentliche Abhandlungen, hg. von Alfons Schulz, Bd. 13.5)
[2]
Bibelzitate folgen, wo nichts anderes angegeben ist, der Lutherübersetzung 1984.
[3]
James Barr, Biblical Words for Time (London: SCM Press, 1962), S. 145-147.
[4]
Philo of Alexandria, On the Creation of the Cosmos according to Moses, trans. with an Introduction and Commentary by David T. Runia, Philo of Alexandria Commentary Series 1 (Leiden: E.J. Brill, 2005).
[5]
R.N. Whybray, Proverbs. New Century Bible Commentary (Grand Rapids, Mich.: Wm. B. Eerdmans, 1994), S. 131f.
[6]
A Greek-English Lexicon of the New Testament, by W. Bauer, trans. and ed. W.F. Arndt and F.W. Gingrich, s.v. “aionios”. Deutsch: Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur (Berlin: Verlag Alfred Töpelmann, 5. Aufl. 1963).
[7]
Barr, Biblical Words for Time, S. 149.
– William Lane Craig