#364 Kann ein außerzeitliches Wesen eine personale Natur haben?
January 14, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
Ich bin gläubiger Christ und ein Student aus Norwegen. Bei einer Debatte über die Existenz Gottes (in einer Facebook-Gruppe mit dem Namen „Jugend und Politik“) habe ich für die Existenz Gottes argumentiert, indem ich das kalam-kosmologische Argument verwendete, das ich in Ihren YouTube-Videos und Ihren Artikeln hier auf RF kennengelernt habe. Dabei stieß ich auf ein Problem. Ein Gesprächspartner versuchte, das Argument zu umgehen, indem er die Existenz eines körperlosen Intellekts jenseits von Zeit und Raum problematisierte. Ich fürchte, dem kann ich nichts entgegnen und habe auch auf Ihren Seiten eifrig nach einer Erklärung dazu gesucht.
Das ins Spiel gebrachte Argument geht etwa so:
„Ein denkendes Wesen mit Willen und Vernunft trifft auf Vernunftsbasis Entscheidungen. Ein Wesen jenseits von Raum und Zeit kann keine Entscheidungen treffen, da es nicht durch Zeit eingeschränkt ist und seine Vernunft nicht nach irgendeiner Ordnung vorgeht. Um als die außerhalb des Universums stehende Ursache zu handeln, hätte der Schöpfer ein denkendes Wesen (ein ›Intellekt‹) sein müssen; ein Wesen, das außerhalb von Raum und Zeit steht, kann also nicht dieselben Eigenschaften wie der Christengott oder irgend ein anderer Gott haben. Ferner ist ein ›Dasein jenseits von Raum und Zeit‹ etwas nicht Falsifizierbares und hat folglich in der Logik keinen Platz .“
Ich glaube, es ging ihm um die Reihenfolge der Denkoperationen, mit denen der Verstand umgeht und um seine Funktionsunfähigkeit, wenn er nicht an Raum und Zeit gebunden ist. Mein Diskussionspartner hat sich explizit auf Ihre Argumente berufen. Kurz gesagt: entsprechend seiner Funktionsweise bedarf der Intellekt der Zeit, um zu funktionieren.
Haben Sie irgendeine Antwort auf diesen Einwand? Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.
Håvard
Norway
Prof. Craigs Antwort
A
Ihre Frage, Håvard, erinnert mich an unsere wunderschöne Reise nach Bergen vor zwei Jahren! Schön zu wissen, dass man auch in Norwegen auf die Website www.reasonablefaith.org zugreift!
Ich habe Ihre Frage an anderer Stelle schon beantwortet, daher möchte ich es kurz halten und Sie auf die Quellen verweisen:
“Divine Timelessness and Personhood.” International Journal for Philosophy of Religion 43 (1998): 109-124.
God, Time, and Eternity (Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 2001), Kap 2.
Time and Eternity: Exploring God’s Relationship to Time (Wheaton, Ill.: Crossway, 2001), Kap 3.1.
Die erstgenannte Quelle ("Divine Timelessness and Personhood") ist hier auf dieser Webseite verfügbar. Die zweite gleicht im Großen und Ganzen der ersten. Die dritte bietet eine populärwissenschaftliche Version für Nichtphilosophen. Per Fernleihe sollte das Buch an Ihrer Universität zweifellos erhältlich sein.
Lassen Sie uns kurz auf die Argumente Ihres Freundes eingehen. Das zweite braucht uns nicht weiter zu beschäftigen, denn es ist ein heilloses Wirrwarr. Was meint er denn, wenn er behauptet: „Ein Dasein jenseits von Raum und Zeit" sei „etwas nicht Falsifizierbares und hat folglich in der Logik keinen Platz“?Die ganze Aussage ist ein Durcheinander. Begriffe sind nämlich weder falsifizierbar noch nicht-falsifizierbar – Aussagen dagegen sind es sehr wohl. Wahrscheinlich beklagt er sich darüber, dass die Aussage: „Gott existiert jenseits von Raum und Zeit“ nicht falsifizierbar ist und somit in der Logik keinen Platz hat. Aber was bedeutet dies? Niemand behauptet, eine solche Aussage gehöre zu den „logischen Wahrheiten“ wie der Satz vom Widerspruch oder die Regeln des richtigen Schlussfolgerns wie der modus ponens, der modus tollens usf. Ich vermute, Ihr Bekannter bringt hier den alten Bedeutungsfalsifikationismus zum Ausdruck, wonach eine Aussage nur dann Bedeutung haben könne, wenn sie prinzipiell empirisch widerlegt werden kann. Sollte er das meinen, dann sollten Sie ihn darauf hinweisen, dass das Falsifikationsprinzip der Bedeutung – genau wie das Verifikationsprinzip der Bedeutung – eine willkürliche und äußerst unplausible Annahme darstellt, die heute so gut wie kein einziger zeitgenössischer Denker mehr vertritt [1]. Auf alle Fälle ist die Aussage: „Gott existiert jenseits von Raum und Zeit“ sehr wohl widerlegbar, ja, ich habe selbst in einem bestimmten Zusammenhang dagegen argumentiert und meine, diese Aussage falsifiziert zu haben! In den oben genannten Büchern bringe ich zwei Argumente gegen die Außerzeitlichkeit Gottes, und diese Argumente halte ich nicht nur für korrekt, sondern auch für überzeugend. Aber noch schlimmer: Ihr Bekannter behauptet selbst, sie widerlegt zu haben! Denn seinem ersten Argument nach kann es gar keinen Gott jenseits von Raum und Zeit geben. So steht sein zweites Argument (wenn ich ihn richtig verstanden habe) im Widerstreit zu seinem ersten.
Interessant ist also sein erstes Argument – ein altes Argument, das immer wieder gegen die Außerzeitlichkeit Gottes angeführt worden ist. Der Kritiker der Zeitlosigkeit Gottes behauptet, die beiden Aussagen
(1) Gott ist zeitlos
und
(2) Gott ist ein persönlicher Gott
seien im weiteren Sinne [2] logisch unvereinbar, und zwar auf Grund folgender notwendig wahrer Voraussetzungen:
a. Wenn Gott außerzeitlich ist, kann er die Eigenschaften x, y und z nicht besitzen.
b. Wenn Gott die Eigenschaften x, y und z nicht besitzen kann, ist er kein persönlicher Gott.
Für x, y und z werden dann bestimmte Merkmale genannt. Die Eigenschaften, die Ihr Bekannter im Sinn hat, sind Vernunft und rationale Willensentscheidung. Er muss nun aber zeigen, inwiefern (1) diese Eigenschaften notwendig zum Personsein eines Wesens gehören und (2) dass kein außerzeitliches Wesen sie besitzen kann.
Ja, ich stimme zu: Diese Eigenschaften gehören notwendig zum Personsein. Ich sehe aber keinen Grund anzunehmen, dass sie nicht zeitlos vorhanden sein können. Ihr Bekannter scheint hier Vernunft und diskursives Denken durcheinanderzubringen [3]; letzteres meint den zeitlichen Vorgang, von Prämissen zu gewissen Schlussfolgerungen zu gelangen. Dass Gott diskursiv denken soll, wird nicht so sehr durch Gottes Außerzeitlichkeit ausgeschlossen, sondern durch seine Allwissenheit. Ein allwissendes Wesen hat kein diskursives Denken, da es die Schlussfolgerungen, zu denen es kommen könnte, immer schon weiß! Und selbst wenn Gott in der Zeit wäre, er ließe sich nicht auf diskursives Denken ein. Also kann man augenscheinlich aus der Abwesenheit von diskursivem Denken nicht schließen, Gott sei apersonal!
Die Verfechter eines außerzeitlichen Gottes haben immer wieder darauf hingewiesen, dass „etwas wissen“ überhaupt keine Zeit in Anspruch nimmt. [4] Ohne auf eine Diskussion zur Frage der Bedeutung des Vernunftbegriffs einzugehen, dürfen wir ziemlich zuversichtlich sagen: Gottes außerzeitliches Wesen schmälert weder Gottes noetische Struktur (das System seiner Überzeugungen) noch seine Fähigkeit, bestimmte „intellektuelle Pflichten“ zu erfüllen, die man ihm etwa andichtet. Da er allwissend ist, wäre es allerdings ziemlich dumm anzunehmen, man könne Gott der Irrationalität anklagen!
Wie steht es um den Willen? Ich sehe keinen Grund zur Annahme, ein außerzeitlicher Gott könne keinen freien Willen ausüben. Auch hier gilt wieder: Allein die Allwissenheit Gottes schließt ein „Entscheiden“ i. S. v. Entschlussfassung nach einer Zeit des Überlegens aus. Sogar ein zeitgebundener Gott würde nicht in diesem Sinn seine Entscheidungen treffen. Dennoch trifft Gott Entscheidungen in dem Sinn, dass sein Wille ganz frei das eine zuungunsten des anderen beabsichtigt. Es liegt allein bei Gott, was er tut – er hätte auch anders wollen können. Das ist libertäre Willensfreiheit im strengsten Sinn. Gottes freie Entscheidungen sind aufgrund seiner Allwissenheit entweder ewig oder zeitlos, aber es geht ihnen kein Zeitraum der Unwissenheit oder Unentschlossenheit voran.
Bislang ist mir noch kein vernünftiges Argument bekannt, wonach die Vorstellung eines außerzeitlichen, persönlichen Wesens inkohärent sei. Meine eigene Sichtweise ist ja, dass Gott ohne Schöpfung außerzeitlich ist, und von dem ersten Augenblick der Schöpfung an „in der Zeit“ ist.
(Übers.: I. Carobbio; L:RN)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/can-an-atemporal-being-be-personal
[1]
Eine Kurzwiderlegung des Verifikations- und Falsifikationsprinzips findet sich hier: http://www.reasonablefaith.org/german/die-revolution-in-der-angloamerikanischen-philosophie (A.d.L.)
[2]
Engl. "broadly logically incompatible".Wenn zwei Aussagen im engeren Sinne logisch nicht vereinbar sind, besteht ein direkter Widerspruch. (Z.B. "es regnet" und "es regnet nicht", also A und nicht-A).Wenn zwei Aussagen im weiteren Sinne (engl. "broadly") logisch nicht vereinbar sind, besteht vielleicht kein direkter Widerspruch, aber z.B. ein metaphysischer Widerspruch (z.B.: "Der Bundespräsident ist eine Primzahl". Diese Aussage ("A = B") enthält keinen logischen Widerspruch im engeren Sinne, ist aber metaphysisch unmöglich, da Primzahlen abstrakte Objekte sind, die z.B. keine Ansprachen halten oder Empfänge geben können etc.)(A.d.L.)
[3]
In der philosophischen Tradition unterschied man u.a. zwischen "ratio" (diskursives Denken) und "intellectus" (nicht-diskursives, "direktes" Denken).
Für den Unterschied zwischen diskursivem und nicht-diskursivem Denken, vgl. Abschnitt 13 "non-discursive reasoning" (nicht-diskursives Denken) in diesem Aufsatz über die Logik des Aristoteles: http://www.iep.utm.edu/aris-log/#H13
(A.d.L.)
[4]
Nelson Pike, God and Timelessness, Studies in Ethics and the Philosophy of Religion (New York: Schocken Books, 1970), S. 124; William Mann, “Simplicity and Immutability in God,” International Philosophical Quarterly 23 (1983): 270; Paul Helm, Eternal God (Oxford: Clarendon Press, 1988), S. 64f; John C. Yates, The Timelessness of God (Lanham, Md.: University Press of America, 1990), S. 173f; Brian Leftow, Time and Eternity, Cornell Studies in Philosophy of Religion (Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1991), S. 285-290.
– William Lane Craig