#383 Die Realität der Zeit
November 10, 2016
F
Sehr geehrter Herr Prof. Craig,
Sie haben, zusammen mit anderen Philosophen, eine wichtige Rolle in meiner apologetischen Entwicklung gespielt. Es erstaunt mich, wie viele Dinge als selbstverständlich gelten, obwohl sie eigentlich von den Philosophen auf Herz und Nieren geprüft werden müssten. So muss ich Sie fragen: Warum glauben Sie an die Zeit? Ist sie nicht bloß eine Idee in unserem Denken, die uns hilft, ein Ereignis in Bezug auf unsere Erfahrung zu lokalisieren? Dass ich älter werde, liegt nicht an der Zeit, sondern an meiner biologischen Entwicklung und der Realität der Entropie. Beide sind physikalische Bestandteile des Universums, die eine dynamische Interaktion von Raum und Masse mit sich bringen. Und die Elemente, die Ereignisse bestimmen, existieren ja bereits in unserem Universum. Der Satz „Die Zeit für x ist noch nicht reif“ bedeutet eigentlich nichts weiter, als dass die physikalischen Bedingungen für das Auftreten von x durch die bisher vorliegenden Faktoren noch nicht erfüllt sind. Könnten Sie mir helfen, zu sehen, was ich hier vielleicht übersehen habe?
Guillermo
Nicaragua
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Es ist schön, eine Frage von jemandem zu bekommen, dessen Name dem meinem sehr ähnelt. Warum ich an die Zeit glaube? Nun, weil ich sie erlebe und weil es keine Gründe gibt, die dieses Erleben widerlegen würden. In meiner Arbeit über Gott und die Zeit plädiere ich ausführlich für die Realität der temporalen Zeit, also für die A-Theorie der Zeit, die auch beinhaltet, dass das zeitliche Nacheinander eine Realität ist. Mir fällt keine andere Überzeugung der Menschen ein, die so fundamental und so stark gerechtfertigt ist wie der Glaube, dass die Zeit eine Realität ist. Selbst der Glaube an die Existenz der äußeren Welt der physischen Objekte kommt da nicht mit. Denn wir erfahren die äußere Welt als eine zeitliche Welt – und wir erfahren auch die innere Welt unseres Bewusstseins als eine zeitliche Welt, nämlich als eine Abfolge von Bewusstseinszuständen. Selbst wenn ich ein Boltzmann-Gehirn [1] mit der Illusion einer mich umgebenden physikalischen Welt wäre, würde dies das Erleben der Zeit für mich nicht schmälern.
Ich argumentiere also, dass der Glaube an die Realität der temporalen Zeit eine berechtigterweise basale Überzeugung [2] ist, die in unserer Erfahrung der Zeit gründet. Hier meine Argumentation:
P1: Der Glaube an die objektive Realität der Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist eine berechtigterweise basale Überzeugung.
P2: Wenn unser Glaube an die objektive Realität der Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berechtigterweise basal ist, dann sind wir prima facie [3] gerechtfertigt, diese Überzeugung zu haben.
K: Also sind wir prima facie gerechtfertigt, an die objektive Realität der Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu glauben.
Da die Wahrheit der Prämisse (2) sich aus der Definition von „berechtigterweise basale Überzeugung“ ergibt, ist die Prämisse, die wir verteidigen müssen, die Prämisse (1).
Ich bringe mehrere Argumente für (1) vor, wobei ich auf solche Fakten verweise wie unser Erleben der Gegenwärtigkeit unserer Erlebnisse, unsere unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Vergangenheit und Zukunft und unser Erleben des zeitlichen „Werdens“. Diese Beispiele zeigen, wie fundamental, eingewurzelt und universal in unserem Denken der Glaube an die Realität der fließenden Zeit und des sukzessiven Werdens ist. Jede Theorie, dass die Zeit nicht real sei (die sog. "B-Theorie der Zeit"), bedeutet, dass wir uns in einem Gefängnis der Irrationalität befinden, in einer Illusion, aus der wir uns nicht befreien können. Wenn dagegen eine temporale Sicht der Zeit die richtige ist, ist das, was wir erleben und glauben, vollkommen rational und angemessen. Insofern wir unser Erleben der Zeit für richtig halten, sollten wir eine temporale Sicht der Zeit unterschreiben.
Aus diesem Argument folgt, dass wir prima facie berechtigt sind, an die objektive Realität der Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu glauben. Diese Folgerung ist so unkontrovers, dass sie selbst von einem Vertreter einer nichttemporalen Definition der Zeit akzeptiert werden könnte. Sein Einwand würde lauten, dass unsere Prima facie-Berechtigung auf irgendeine Weise widerlegt werden kann. Aber durch was? Ich finde, dass es keine solche Widerlegungen gibt, und dies gilt auch für McTaggarts berühmtes Argument für die Nichtrealität der Zeit (das übrigens von kaum jemandem geteilt wird; sowohl die Vertreter der A-Theorie der Zeit also auch der B-Theorie der Zeit widerlegen es, jeweils mit verschiedenen Gründen).
Sie fragen, ob die Zeit „nicht bloß eine Idee in unserem Denken ist, die uns hilft, ein Ereignis in Bezug auf unsere Erfahrung zu lokalisieren“. Ich sehe keinen Grund dafür, so zu denken. Aber selbst wenn dies stimmte, wäre diese Erfahrung immer noch temporal, sodass jegliche Vorstellung, die Ereignisse in Bezug auf unsere Erfahrung lokalisiert, zu einer temporalen Lokalisierung im zeitlichen Hintereinander führen wird.
Sie schreiben weiter: „Dass ich älter werde, liegt nicht an der Zeit, sondern an meiner biologischen Entwicklung und der Realität der Entropie.“ Ich würde hier antworten: Jein. Die Zeit an sich führt nicht dazu, dass unser Körper verschleißt und somit altert. Aber alles in der Zeit wird „älter“, in dem Sinne, dass es seit einer immer längeren Zeitspanne existiert, egal wie sein Aussehen sich verändert. Wie Sydney Shoemaker einmal in einem berühmten Artikel aufzeigte, kann selbst ein Universum, das absolut stillsteht, ein Vergehen von Zeit erfahren und so allmählich „älter“ werden.
Sie schreiben: „Die Elemente, die Ereignisse bestimmen, existieren ja bereits in unserem Universum. Der Satz ‚Die Zeit für x ist noch nicht reif‘ bedeutet eigentlich nichts weiter, als dass die physikalischen Bedingungen für das Auftreten von x durch die bisher vorliegenden Faktoren noch nicht erfüllt sind.“ Ihr eigener Satz impliziert die Realität der temporalen Zeit; dies steckt in Ihrer Formulierung, dass die physikalischen Bedingungen für x NOCH nicht erfüllt sind. „Noch nicht“ ist eine temporale Formulierung, die die physikalischen Ereignisse in Bezug auf das Jetzt der Gegenwart lokalisiert. Ähnlich ist es mit Ihrem Satz, dass die Elemente, die Ereignisse bestimmen, BEREITS im Universum existieren!
Ich glaube, die Realität der Zeit ist unausweichlich. Der gern begangene Fehler besteht darin, die Zeit mit irgendeiner physikalischen Quantität gleichzusetzen und sie nicht als eigene Realität zu betrachten, die wir mit Hilfe physikalischer Mechanismen (sprich: Uhren) zu messen versuchen. Wie John Lucas es so unvergesslich ausgedrückt hat: Die Zeit ist das, wozu die Uhren da sind. Vielleicht ist dies das, was Sie übersehen haben.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/the-reality-of-time
[1]
Die hypothetische Vorstellung eines "Boltzmann-Gehirns" ist die eines kleinsten beobachtbaren Universums, bei dem ein Gehirn zufällig aus einem Quantenvakuum in die Existenz springt und sich oder seine Umwelt kurz wahrnehmen kann, bevor es wieder verschwindet. Der Name geht auf den Physiker Ludwig Boltzmann (1844-1906) zurück. (Vgl. z.B. http://www.reasonablefaith.org/german/qa206 oder http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=31782104 oder https://en.wikipedia.org/wiki/Boltzmann_brain) (Anm. d. Übers.)
[2]
Eine Überzeugung ist "basal", wenn wir auf direktem Wege zu dieser Einsicht gelangen, z.B. "vor mir steht ein Tisch" – man kann dies direkt sehen und braucht für diese Einsicht keine Argumente (durch die man sie indirekt als wahr erweisen würde). Eine Überzeugung ist "berechtigterweise basal", wenn es richtig ist, sie als basal anzusehen. (Anm. d. Übers.)
[3]
Eine Sichtweise ist prima facie gerechtfertigt, wenn es auf den ersten Blick plausibel erscheint, diese Sichtweise zu vertreten. Es ist so lange rational, eine prima facie plausible Sicht für wahr zu halten, bis überzeugende Gründe dagegen auftauchen. (Eine Sicht ist dann "ultima facie" gerechtfertigt, wenn sie auch nach Prüfung aller Gründe und Gegengründe richtig zu sein scheint). (Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig