#385 Theistische Ethik und Objektivität
November 10, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
Ich bin Atheist und wohne in Schweden (wie Sie wissen, gibt es dort ziemlich viele Atheisten). Ich interessiere mich für Philosophie und Ethik und bin wahrscheinlich in vielen Punkten anderer Meinung als Sie, aber ich mag Ihre Artikel und Diskussionsbeiträge sehr. Wenn Sie ans Rednerpult treten, weiß jeder, dass es jetzt zur Sache geht. (Man könnte daraus glatt ein theistisches Argument ableiten: Wenn Gott nicht existiert, ist es ein Wunder, dass Sie so viele Debatten gewinnen, und damit ein Hinweis auf die Existenz Gottes! Kleiner Scherz von mir.)
Ich habe eine Frage aus dem Bereich der Ethik, die Sie mir hoffentlich beantworten können. Mein meta-ethisches Wissen ist ziemlich bescheiden, aber ich neige, wenn auch mit etwas Zögern, zu der Position, dass Moral etwas Objektives ist (da wäre also wenigstens eines, wo wir einer Meinung sind!). Ich bin dabei der Meinung (auch wenn ich das hier nicht weiter ausführen möchte), dass moralische Verpflichtungen auch ohne Gott objektiv sein können, ja ich möchte noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass dann, wenn Moral in Gott gründet, sie NICHT objektiv sein kann. Wenn „objektiv“ „vom Denken unabhängig“ (mind-independent) bedeutet (das ist vielleicht eine recht grobe Definition von „objektiv“, aber akzeptieren wir sie für’s Erste), ist dann nicht eine Moral, die in Gott gründet, zwangsläufig „göttlich-subjektiv“ und somit nicht objektiv?
Sie mögen hier vielleicht einwenden, dass ich hier auf einen Strohmann schieße und dass Ihre Position die ist, dass Moral in Gottes Wesen gründet. Aber wenn Gottes Wesen „das Gute“ IST, dann verstehe ich nicht recht, was hier das normative Element soll. Sie werden dies als das „Sein/Sollen-Problem“ erkennen: Wenn Gottes Wesen so IST und nicht so, wieso sollten wir daraus schließen, dass wir das Wesen Gottes in unserem Handeln widerspiegeln SOLLTEN? Es kann zwar gut sein, dass wir dafür (so es denn wahr ist) Vernunftgründe haben, aber ich sehe nicht, wie wir wie auch immer geartete „moralische“ Gründe dafür haben sollen (oder jedenfalls nicht in einem Sinne, der stärker wäre als der bloße Utilitarismus, den Sie ja ablehnen).
Meine zweite Frage betrifft direkter Ihr Moral-Argument: Wenn unsere moralische Pflicht darin besteht, „Gottes Wesen widerzuspiegeln“, und wenn Gott „das Gute“ IST (oder wie immer Sie das formulieren würden; ich versuche wacker, keinen „Strohmann“ aufzubauen!), wird damit Ihr Moral-Argument nicht zu einem Zirkelschluss? Ich persönlich finde, dass es nur deswegen Sinn macht, weil Sie nirgends definieren, was Sie unter „moralischen Werten und Pflichten“ verstehen (zumindest habe ich bei Ihnen eine solche Definition nirgendwo gefunden). Wenn wir für „objektive moralische Werte“ „Gottes Wesen“ einsetzen und unter unseren „Pflichten“ die Widerspiegelung dieses Wesens verstehen, dann erhalten wir die folgende Argumentationskette:
Prämisse 1: Wenn Gott nicht existiert, existieren auch sein Wesen sowie Handlungen, die dieses Wesen widerspiegeln, nicht. (Das sehe ich auch so!)
Prämisse 2: Aber Gottes Wesen sowie Handlungen, die dieses Wesen widerspiegeln, existieren. (Das sehe ich nicht so, und hier liegt unser Disput!)
Daher existiert Gott.
Ich sehe hier einen Zirkelschluss, weil Sie in der Prämisse 2 „einfach so“ davon ausgehen, dass Gottes Wesen existiert. Vielleicht können Sie mir da auf die Sprünge helfen?
Ich darf zusammenfassen (ich weiß, Sie mögen Zusammenfassungen): Was ist das Argument, das das oben genannte „Sein/Sollen-Problem“ überbrückt, und dreht sich Ihr Moral-Argument nicht letztlich im Kreis? (Vielleicht können Sie eine genauere Version Ihrer Moral-Argumentation liefern, in der Sie moralische Werte und Pflichten explizit definieren.)
Bleiben Sie skeptisch und lehren und lernen Sie weiter!
Alles Gute,
Rasmus
Sweden
Prof. Craigs Antwort
A
Es ist mir ein Vergnügen, eine Frage aus Schweden zu erhalten, Rasmus, das ich so gerne besuche.
Ihre erste Frage betrifft die Objektivität der theistischen Ethik. Für mich bedeutet das Wort „objektiv“ vom Denken unabhängig. Lawrence Krauss hat dies sehr treffend einmal so ausgedrückt: Die objektive Realität ist das, was auch dann noch da ist, wenn ich nicht mehr daran denke.
Aber jetzt kommt er, der Einwand: Wenn moralische Werte in Gott gründen, dann sind sie, da Gott ja ein Wesen ist, das denkt, nicht vom Denken unabhängig. Sie sind zwar unabhängig vom menschlichen Denken, aber nicht von Gottes Denken. Damit aber ist eine theistische Ethik vom Denken abhängig und somit nicht objektiv.
Dieser Einwand ist ein typischer Fall von argumentativem Overkill, denn wenn man diesen Einwand zu Ende denkt, bricht die Unterscheidung zwischen vom Denken abhängigen und vom Denken unabhängigen Realitäten zusammen, und alles wird vom Denken abhängig. Selbst solche Dinge wie Menschen, Planeten und Sterne – die Musterbeispiele für objektive Realitäten sind – werden vom Denken abhängig, da auch sie ja in ihrer Existenz von Gott abhängen. Damit aber geht die ebenso intuitive wie hilfreiche Unterscheidung zwischen vom Denken abhängigen und vom Denken unabhängigen Realitäten über Bord.
Und genau diese Unterscheidung sollten wir nicht aufgeben. Es besteht ein offensichtlicher Unterschied zwischen Halluzinationen, Träumen und Fantasiegebilden einerseits und den Dingen, die es schon gab, bevor wir auf der Bühne erschienen. Und wir können ferner unterscheiden zwischen dem klassischen Theismus und solchen idealistischen Philosophien wie der George Berkeleys, der lehrte, dass die mit unseren Sinnen wahrnehmbare Welt nur in Gottes Geist existiert (so ähnlich wie in einem Traum), und nicht als von Gott erschaffene und erhaltene raum-zeitliche Realität. Für den Berkeley’schen Idealismus ist die Welt auf eine Weise vom Denken abhängig, wie sie es im klassischen Theismus nicht ist.
Es gibt ferner einen deutlichen Unterschied zwischen theistischen ethischen Systemen, die voluntaristisch sind (wie das von William Ockham), und solchen, die dies nicht sind (wie bei Thomas von Aquin). Für Ockham scheinen moralische Werte auf eine Weise vom Denken abhängig zu sein, wie sie dies bei Aquin nicht sind: Für Ockham hat Gott diese Werte nach seinem Gutdünken erschaffen, während sie für Aquin nicht in seinem Willen, sondern in seinem Wesen gründen. Es wäre äußerst irreführend, die ethischen Systeme von Thomas von Aquin und von William Ockham beide als vom Denken abhängig (mind-dependent) zu bezeichnen, nur weil in beiden Gott der Ursprung der ethischen Werte ist. Wir müssen eine sinnvolle Unterscheidung zwischen vom Denken abhängigen und vom Denken unabhängigen Realitäten beibehalten, wenn wir diese verschiedenen Positionen richtig verstehen wollen.
Ich bin mir nicht sicher, wie man das am besten bewerkstelligt. Aber um einen Versuch zu wagen: Wenn wir sagen, dass etwas in dem Sinne vom Denken abhängig ist, dass es subjektiv ist, meinen wir damit, dass dieses Etwas auf irgendeine Weise ein „Produkt“ des Denkens ist, d.h. es ist entweder ein mentales Phänomen (wie ein Schmerz oder ein Traum) oder es ist von einem Gehirn bzw. Bewusstsein erschaffen (wie eine erfundene Geschichte oder ein imaginärer Gegenstand). Etwas, das lediglich in dem Sinne vom Denken abhängig ist, dass seine Existenz die Existenz eines denkenden Bewusstseins impliziert, erfüllt nicht die Bedingungen für Subjektivität; es kann durchaus eine objektive Realität sein, weil es weder ein mentales Phänomen noch etwas Erdachtes oder Erfundenes ist.
Nun sind nach der nichtvoluntaristischen theistischen Ethik moralische Werte nicht im subjektiven Sinne vom Denken abhängig. Sie setzen zwar voraus, dass ein denkendes Bewusstsein (nämlich Gott) existiert, aber sie sind nicht im subjektiven Sinne vom Denken abhängig.
Sie nehmen diese Position zur Kenntnis, aber drücken Bedenken aus: „Wenn Gottes Wesen „das Gute“ IST, dann verstehe ich nicht recht, was hier das normative Element soll. Sie werden dies als das „Sein/Sollen-Problem“ erkennen: Wenn Gottes Wesen so IST und nicht so, wieso sollten wir daraus schließen, dass wir das Wesen Gottes in unserem Handeln widerspiegeln SOLLTEN?“
Womit wir bei der „Divine Command“-Theorie der Ethik wären. Moralische Pflichten und Verbote sind das Ergebnis moralischer Imperative von einer berechtigten Autorität. Als das höchste Gut – ja, als der Inbegriff der Güte – ist Gott eine berechtigte Autorität zum Erlass moralischer Anweisungen. Auf diese Weise sind Gottes Befehle die Quelle von Normativität. Und diese Befehle sind nicht willkürlich, sondern Ausdruck von Gottes durch und durch gutem Wesen. So ist Gottes Wesen die Basis moralischer Werte, und seine Befehle begründen moralische Pflichten.
Man mag hier einwenden: „Aber warum ist Gott der Standard moralischer Werte?“ Diese Frage liegt etwas schief. Jeder hat das Recht, seine moralische Theorie zu präsentieren und ihre Parameter zu erklären, und jede Moraltheorie postuliert irgendeine höchste Autorität, die das nicht weiter hinterfragbare Ende der Erklärungskette darstellt. Die entscheidende Frage ist, ob diese Moraltheorie plausibel ist – und zwar vor allem in dem Sinne, dass ihre höchste Autorität ein nichtwillkürliches, adäquates Ende der Erklärungskette ist. Im Gegensatz zum Atheismus hat der Theismus ein solches Ende der Erklärungskette, denn Gott ist per definitionem das höchste vorstellbare Wesen, ein Wesen, das es wert ist, angebetet zu werden. Etwas noch Höheres ist nicht vorstellbar. Und damit bietet die Gleichsetzung des Guten mit Gott selber uns eine solide Basis für eine plausible Moraltheorie.
Ihre zweite Frage – die Sache mit dem angeblichen Zirkelschluss im Moral-Argument – lässt sich rascher beantworten. Wie von mir an anderer Stelle dargelegt, macht der Theist, wenn er sagt, dass Gott das Gute ist, eine ontologische und keine semantische Behauptung. Er versucht nicht, die Wörter „gut“ und „obligatorisch“ über das Wesen Gottes und seine Befehle zu definieren, sondern benutzt diese Wörter in ihrer ganz normalen Alltagsbedeutung, wie sie in jedem Wörterbuch steht. Das ist auch genau der Grund, warum ich keine Definition dieser Ausdrücke biete. Es geht bei dem Moral-Argument nicht um moralische Semantik, sondern um eine metaphysische Aussage über die Basis moralischer Werte und Pflichten. Semantisch operiert der Theist auf dem gleichen Boden wie der säkulare Ethiker; er benutzt die ethischen Begriffe in ihrer Alltagsbedeutung. Das aber heißt, dass man dem Moral-Argument keine Zirkularität oder Trivialität vorwerfen kann.
Rasmus, vor ein paar Jahren habe ich mit dem bekannten schwedischen Moralphilosophen Torbjörn Tänssjö über Gott und die Moralität debattiert. Hier ein Link dazu, der für Sie von Interesse sein könnte:
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/theistic-ethics-and-mind-dependence
– William Lane Craig