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#391 Gottes Zeitlosigkeit ohne die Schöpfung

#391 Gottes Zeitlosigkeit ohne die Schöpfung

November 10, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich bewundere Ihre Arbeit schon seit langem. Obwohl ich mittlerweile kein Christ mehr bin, hat Ihre Arbeit als Philosoph und Theologe eine bedeutende Rolle in der Herausbildung meiner eigenen Positionen gespielt, und ich bin voll und ganz vom Theismus überzeugt, obwohl ich noch viele Anfragen an ihn habe. Ich halte auch Ihre Analyse von Gottes Verhältnis zur Zeit für plausibel, aber ich stolpere immer über die Vorstellung, dass Gott ohne die Schöpfung zeitlos ist, aber seit der Schöpfung zeitlich.

Lassen Sie mich hierzu zunächst meine übrigen Positionen erklären. Ich bin voll davon überzeugt, dass eine unendliche Reihe von Ereignissen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, unmöglich ist; dies gilt auch für alle etwaigen mentalen Ereignisse, die stattgefunden haben (und dies auch dann, wenn es keine physische Welt gäbe). Die Zeit muss einen Anfang haben (so sehe ich das jedenfalls; bitte korrigieren Sie mich, falls nötig). Da ich an die objektive Realität des zeitlichen Werdens glaube, lehne ich die B-Theorie der Zeit ab und akzeptiere die A-Theorie der Zeit. Ich stimme ferner voll überein mit der ersten Prämisse des Kalām-Arguments – dass alles, was zu existieren beginnt, eine Ursache haben muss, sodass für mich der Atheismus noch nicht einmal eine Option ist. In allen diesen Punkten stimme ich Ihnen zu.

Rein logisch verstehe ich also, wie es zu dieser Vorstellung kommen kann, dass Gott außerhalb der Schöpfung zeitlos ist, aber seit der Schöpfung zeitlich. Wenn ich mich in dieser Sache für eine Position entscheiden müsste, würde ich diese wählen, weil sie mir die am wenigsten absurde zu sein scheint. Aber unter dem Strich kommt sie mir immer noch absurd vor, und das beschäftigt mich. Hier ist mein Problem:

In Ihrer Sicht von der Beziehung Gottes zur Zeit (oder jedenfalls so, wie ich diese Sicht verstehe) ist es hier und jetzt wahr, dass Gott zeitlich ist; er ist nicht zeitlos. Wahr ist auch, dass Gott nie mehr als Zeitloser existieren wird (wenn wir davon ausgehen, dass er will, dass wir Menschen für immer leben). Aber es ist auch wahr, dass Gott nicht „früher einmal“ zeitlos existierte. Die Frage, wann Gott in einem Zustand der Zeitlosigkeit existierte, ist sinnlos. Aber wie kann Gott eine zeitlose „Phase“ in seinem Leben haben? Und was für eine Beziehung besteht zwischen diesen Phasen, wenn nicht eine temporale? Selbst der obige Satz, dass Gott „nie mehr“ zeitlos existieren wird, scheint mir problematisch zu sein.

Angenommen, Gott beschließt, die Schöpfung gewissermaßen rückgängig zu machen, und löscht alles aus (sodass er das Einzige ist, was noch existiert) und hat den festen Willen, nie mehr etwas anderes zu erschaffen: Dann geht er doch in einen Zustand der Unveränderlichkeit über. Ich sehe in diesem Szenario nichts, was logisch unmöglich wäre, aber das Ergebnis wäre doch, dass wir bei Gott eine zeitlich begrenzte Phase der Zeitlichkeit hätten, die zwischen zwei unterschiedlichen Phasen der Zeitlosigkeit eingeschoben wäre. Wie kann das sein? Verneint dies nicht die ganze Vorstellung einer zeitlosen Existenz Gottes?

Und eine letzte Frage: In Ihrem Buch Time and Eternity [1] erwähnen Sie neben Gott als einzige Beispiele für Dinge, die zeitlos existieren könnten, abstrakte Objekte. Aber angenommen, ich glaube nicht, dass abstrakte Objekte überhaupt eine Existenz haben – gibt es noch andere Beispiele für zeitlose Wesen? Oder wäre da nur Gott? Und: Wenn es unmöglich ist, die Zeitlosigkeit Gottes verständlich darzustellen, wird damit nicht der ganze Begriff nutzlos?

Nein, ich fühle mich nicht zum Atheismus hingezogen; ich versuche einfach, zu verhindern, dass mir der Kopf explodiert. Bitte helfen Sie mir.

Mit freundlichem Gruß,

Dan

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Dass Sie Ihren christlichen Glauben verloren haben, tut mir leid, und ich hoffe, dass dies, wie schon bei vielen anderen, nur eine vorübergehende Phase ist. Aber ich danke Ihnen, Dan, für Ihre anregende Frage. Ob Sie es glauben oder nicht, sie ist von dem mittelalterlichen islamischen Theologen und Philosophen al-Ghazali in seinem brillanten klassischen Werk Die Inkohärenz der Philosophen angesprochen worden. Ich habe Al-Ghazalis Antwort in einem unveröffentlichten Artikel „The Coherence of the Incoherence: Al-Ghazali on God, Time, and Creation“ [2] behandelt, den ich vor einigen Jahren für eine Essaysammlung schrieb, die von Paul Helm herausgegeben werden sollte, aber leider nie realisiert wurde. Im Folgenden schöpfe ich aus diesem Artikel.

Für Al-Ghazali beginnt die Zeit im Augenblick der Schöpfung, sodass Gott ohne das Universum zeitlos existiert. Er versucht sodann, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Gott das Universum vernichtete, sodass die Realität anschließend ein zeitloser Zustand wäre, in welchem Gott ohne die Schöpfung existierte. [3] Hier stellt sich die Frage, wie man die beiden Zustände der Zeitlosigkeit voneinander unterscheiden kann. Rein intuitiv würden wir hier sagen wollen, dass der eine Zustand vor der Existenz der Welt bestand und der andere danach, aber dies kann nicht im buchstäblichen Sinne wahr sein. Wie Sie selber bemerken: „Die Frage, wann Gott in einem Zustand der Zeitlosigkeit existierte, ist sinnlos. Aber wie kann Gott eine zeitlose ‚Phase‘ in seinem Leben haben? Und was für eine Beziehung besteht zwischen diesen Phasen, wenn nicht eine temporale?“

Al-Ghazalis Antwort ist brillant und nimmt Erkenntnisse der modernen mathematischen Physik vorweg. Er stellt klar, dass man die beiden Zustände, in denen Gott ohne die Welt existiert, nicht so voneinander unterscheiden kann, dass der eine in der Vergangenheit und der andere in der Zukunft liegt. Es handelt sich vielmehr um zeitlose Zustände, die, wie Ghazali betont, nur die Existenz eines Wesens (Gottes) und die Nichtexistenz des anderen (der Welt) beinhalten. Mit anderen Worten: Gott existiert jeweils allein, ohne die Welt, und man kann genauso wenig sagen, dass der eine Zustand vor der Welt existiert und der andere nach ihr, wie man sagen könnte, dass etwas räumlich über oder unter der Welt liegt. Wie haben wir dann aber einen Satz wie „Gott existierte vor der Welt“ zu verstehen? Al-Ghazali antwortet:

„… wenn man uns fragt, ob die Welt ein „vorher“ hat, können wir so antworten: Wenn dies bedeutet, ob die Existenz der Welt einen Anfang hat – d.h. eine ihrer eigenen Grenzen, an der sie begann –, dann hat sie ein „vorher“. … Aber wenn du mit „vorher“ etwas anderes meinst, dann hat die Welt kein „vorher“. … Ihr „vorher“ ist der Beginn ihrer Existenz, durch den sie (in dieser Richtung) begrenzt ist. Es gibt nichts außerhalb von ihr, was man ihr „vorher“ nennen könnte.“ [4]

Wir können eine parallele Erklärung für Sätze wie „Gott wird nach der Welt existieren“ formulieren:

„Wenn man uns fragt, ob die Welt ein „danach“ hat, können wir so antworten: Wenn dies bedeutet, dass die Existenz der Welt ein Ende hat – d.h. eine ihrer eigenen Grenzen, an der sie enden wird –, dann hat sie ein „danach“. Aber wenn du mit „danach“ etwas anderes meinst, dann hat die Welt kein „danach“. Es gibt nichts außerhalb von ihr, was man ihr „danach“ nennen könnte.“

Hier formuliert Ghazali, wie die heutigen mathematischen Physiker, sein Verständnis des Beginns (und des Endes) der Zeit anhand der internen topologischen Eigenschaften der Welt, ohne nichtzulässigerweise eine externe Beziehung zu Zuständen vor oder nach der Welt zu postulieren. Dieses Vorgehen legt nahe, dass Ghazali zwischen den beiden Zuständen der Existenz Gottes ohne die Welt über ihre Beziehung zur Gegenwart unterscheiden konnte: Der eine Zustand wird erreicht, indem ich in der Vergangenheit bis zur Grenze der Welt am Anfang der Zeit zurückgehe, der andere, indem ich in der Zukunft bis zu ihrer Grenze am Ende der Zeit vorangehe. Da diese beiden Zustände so unterschieden werden können, sind sie, dem Prinzip der Ununterscheidbarkeit identischer Dinge folgend, deutlich unterschiedene, wenn auch ihrem Wesen nach ähnliche Zustände.

Sie wenden ein: „Aber das Ergebnis wäre doch, dass wir bei Gott eine zeitlich begrenzte Phase der Zeitlichkeit hätten, die zwischen zwei unterschiedlichen Phasen der Zeitlosigkeit eingeschoben wäre. Wie kann das sein? Verneint dies nicht die ganze Vorstellung einer zeitlosen Existenz Gottes?“ Al-Ghazali würde Ihre Folgerung zu Recht verneinen. Wie er aufzeigt, gibt es keine äußere Dimension, in die Gott und die Welt eingebettet wären, sodass, zeitlich gesprochen, kein „Einschieben“ stattfindet, sondern wir erreichen die unterschiedlichen zeitlosen Phasen, indem wir einfach dem inneren Zeitpfeil in den verschiedenen Richtungen folgen.

Was Ihre letzte Frage betrifft, so fällt mir keine andere Art Objekt ein, das die Philosophen als zeitlos existierend angenommen haben, als Gott und verschiedene abstrakte Objekte. Kein materielles, konkretes Objekt kann zeitlos existieren, da es immer Bewegungen auf mindestens der atomaren Ebene geben wird. Ein zeitlos existierendes Wesen, das nicht Gott ist, müsste so etwas wie ein Engelwesen sein, aber Engel stellt man sich normalerweise nicht als zeitlos existierend vor.

Aber was haben Sie eigentlich gegen abstrakte Objekte? Sie sind einfach eine allgemeine ontologische Kategorie, zu der alle möglichen Dinge gehören: Zahlen, Mengen, Funktionen, andere mathematische Objekte, Lehrsätze, Eigenschaften, mögliche Welten etc. Dies sind genügend Beispiele für Dinge, die man sich oft als zeitlos existierend vorstellt. Der Hinweis auf solche Beispiele hat natürlich nicht den Sinn, zu behaupten, dass solche Abstrakta tatsächlich existieren, sondern lediglich, die Stimmigkeit der Vorstellung von zeitlos existierenden Entitäten aufzuzeigen. Das dürfte genügen, um den Kritiker, der sich anmaßt, zu behaupten, eine zeitlose Existenz sei unmöglich, zum Schweigen zu bringen.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/gods-timelessness-sans-creatio

[1]

William Lane Craig hat im Jahr 2001 zwei Bücher mit ähnlichem Titel zu dieser Thematik veröffentlicht: eine Version für fachlich und wissenschaftlich vorgebildete Leser: God, Time and Eternity. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 2001 (321 S.); und eine populärwissenschaftliche Version: Time and Eternity: Exploring God’s Relationship to Time. Wheaton, Ill.: Crossway, 2001 (272 S.). (Anm. d. Übers.)

[2]

Der Titel des unveröffentlichten Aufsatzes "Die Kohärenz der Inkohärenz" von W.L. Craig ist eine Anspielung auf den Titel eines Buchs des Philosophen Averroes "Die Inkohärenz der Inkohärenz".Der muslimische Philosoph Al-Ghazali (1058-1111) hatte in seinem Werk "Die Inkohärenz der Philosophen" (Tahafut al-Falasifah) gegen die von Aristoteles beeinflussten Philosophen argumentiert, dass die Welt einen Anfang hatte, so wie der Koran ja sagt, dass Gott die Welt geschaffen habe. Averroes (1126-1198) – ebenfalls ein islamischer Philosoph, aber Aristoteliker – verfasste eine Entgegnung auf Al-Ghazali mit dem Titel "Die Inkohärenz der Inkohärenz" (Tahafut al-Tahafut), in dem er die Sichtweise vertrat, dass die Welt keinen Anfang hatte, sondern bereits ewig existierte. W.L. Craig vertritt, wie Al-Ghazali, dass die Welt einen Anfang hatte (Prämisse 2 des kalām-kosmologischen Arguments lautet: "Das Universum hat einmal angefangen zu existieren"). (Anm. d. Übers.)

[3]

Man beachte, dass meine Sicht anders ist als die al-Ghazalis. Dieser glaubt, dass Gott durch die Erschaffung des Universums nicht aufhörte, außerhalb der Zeit zu stehen, sodass er folglich nicht in einen Zustand der Zeitlosigkeit zurückkehren kann. Es ist vielmehr so, dass Gott die ganze Zeit eine zeitlose Existenz hat; was sich ändert, ist, dass die Welt der Zeit aufhört zu existieren. In meiner Sicht der Dinge dagegen wird Gott mit dem Augenblick der Schöpfung zeitlich und kann nie mehr zur Zeitlosigkeit zurückkehren, denn selbst dann, wenn er die Welt vernichtete und in einen Zustand der Unveränderlichkeit zurückkehrte, hätte er immer noch Erinnerungen an die Vergangenheit und es wäre für alle Zeiten wahr, dass Gott eine Zeit lang innerhalb der Zeit war.

[4]

Al-Ghazali, Tahafut al-Falasifah, übers. von S.A. Kamali (Lahore: Pakistan Philosophical Congress, 1963), S. 40f.

– William Lane Craig

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