#407 “Sie haben mein Leben ruiniert, Professor Craig!!”
July 12, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
mein Name ist Adam. Ich war schon immer Atheist, seit ich denken kann. Ich wurde in der römisch-katholischen Kirche erzogen, konnte aber nie wirklich von mir behaupten, irgendwelche theistischen Ansichten zu vertreten. So fragte ich im Alter von acht oder neun Jahren beispielsweise einmal eine Nonne aus meiner Kirche, wo ich denn vor meiner Geburt „war“. Daraufhin antwortete sie: „Du warst bei Gott.“ Ich war noch immer neugierig, und so fragte ich sie, wie lange ich denn vor meiner Geburt bei Gott war, worauf sie erklärte: „Eine ganze Ewigkeit!“ Dann fragte ich sie, warum ich mich denn nicht daran erinnern könne, dass ich schon eine ganze Ewigkeit lang „bei Gott existiert habe“ (ist Ewigkeit überhaupt ein kohärentes Konzept?). Nun hatte sie genug von der Frage und scheuchte mich mit der Anweisung fort, mit den anderen Kindern zu spielen. Wenn ich heute zurückschaue, bin ich stolz auf meine damalige Skepsis.
Machen wir einen kleinen Sprung. Ich fand die Philosophie und verliebte mich in sie. Ich wechselte die Schule, um meinen BA (Bachelor of Arts) zu machen. Fast alle Hausarbeiten, die ich im Bachelorstudium schrieb, handelten vom Atheismus oder von Gott. Ich hatte die Mission, im Hinblick auf meine atheistischen Überzeugungen so rational wie möglich zu sein. Darüber hinaus war ich praktisch ein „evangelistischer“ Atheist, der die gute Nachricht der Rationalität predigt! Meine Überzeugungen konnte man bestenfalls überspitzt, schlimmstenfalls intolerant nennen. Ich dachte, ich hätte die „Gottesfrage“ für mich endgültig gelöst. Eins stand für mich fest: Gott existierte nicht. Was mich anfänglich und hauptsächlich an der Philosophie anzog, war die Religionsphilosophie, bald jedoch wurde mir klar, dass ich die ganze Philosophie in all ihrer Pracht erforschen wollte. Philosophie war im ganzen zu interessant, um einfach damit „aufzuhören“ und zu etwas „Richtigem“ überzugehen. Ich beschloss, mich für den Master-Studiengang in Philosophie an der CSULA [1] zu bewerben, und wurde angenommen. Philosophie war etwas, was ich sehr ernst nahm. So ernst, dass ich von New York nach Kalifornien umzog, um dort mein Studium fortzusetzen, obwohl ich dort weder Job noch Wohnung hatte. Ich schrieb dann eine Antwort auf Ihre Arbeit über Die Absurdität des Lebens ohne Gott [2] und verwendete diese als Arbeitsprobe, um an der CSULA angenommen zu werden.
Ich verbrachte monatelang ganze Nächte damit, Gegenargumente zu Ihren Argumenten bezüglich der Inkonsistenz des Atheismus hinsichtlich seiner Antworten auf Fragen nach Bedeutung, Wert und Sinn des Lebens zu schreiben und an ihnen zu feilen. Ich musste das tun. Denn Sie hatten ja gesagt, dass mein Leben als direktes Ergebnis meiner Weltsicht in jeder nur möglichen Hinsicht wertlos sei. Nun, als ambitionierter Philosophiestudent konnte ich Ihnen das nicht einfach durchgehen lassen. Ihre Einwände gegen den Atheismus bedurften einer Antwort. Nachdem ich dann einige Zeit mit Ihrer Arbeit gerungen hatte, hatte ich ein gutes Gefühl bezüglich meines Endergebnisses und nahm an, damit Ihre Einwände gegen den Atheismus zufriedenstellend „beantwortet“ zu haben. Jetzt konnte es weitergehen, konnte ich mein Leben mit derselben Begeisterung, Konsequenz und Wertschätzung weiterleben wie zuvor, bevor ich Ihre Arbeit gelesen hatte.
Damit lag ich falsch.
Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen, denn nachdem ich damals besagten Artikel von Ihnen zum ersten Mal gelesen hatte, konnte ich zwei Tage lang nicht schlafen. Er zerstörte meine Weltsicht ganz und gar. Ich möchte hier erwähnen, dass ich ein großer Anhänger der Neuen Atheisten war, aber ich spürte immer, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmte. Irgendetwas schien zu fehlen, denn sobald sie über Bedeutung, Wert oder Ziel sprachen, taten sie das so, wie nur eine Person, die die Argumente aus Ihrem Artikel nicht kannte, darauf antworten konnte. Kurzum, ich brachte Ihre Arbeit nie mehr aus meinem Kopf, selbst jahrelang, nachdem ich eine „Antwort“ darauf verfasst hatte. Tief in mir wusste ich, dass ich Ihre Einwände gegen den Atheismus nicht nur nicht beantwortet hatte, sondern auch gar nicht darauf antworten konnte. Ihre Aussage darüber, was die atheistische Weltsicht mit sich bringt, ist wahr. Als Atheist kann man dem Nihilismus nicht entkommen.
Für mich ist jetzt alles tot.
Sie haben mein Leben ruiniert.
Bevor ich fortfahre, möchte ich noch erwähnen, dass Sie unter den heute lebenden schon immer mein Lieblingsphilosoph waren. Ich habe jede Ihrer Debatten, die aufgezeichnet wurden und im Internet stehen, gesehen. Ich höre alle Ihre Vorträge und Reden (bei Closer to Truth, Youtube, etc.). Ich halte Sie für den Inbegriff dessen, was ein Philosoph sein sollte. Sie sind mehr als logisch, fantastisch klar und fast wie ein Computer in der Geschwindigkeit und Präzision Ihrer Antworten auf Einwände gegen Ihre Position, besonders auf Kritiken in den Debatten. Schon seit langer Zeit will ich so ein Philosoph sein wie Sie. Ich möchte Argumente gegen meine Position so zergliedern können wie Sie das tun. Ich kann ehrlich sagen, dass ich durch das Lesen Ihrer Arbeiten und das Ansehen Ihrer Internet-Auftritte mehr gelernt habe als in vielleicht allen meinen Jahren an der Universität durch das formale Philosophie-Studium. Es scheint so, dass ich Ihnen einiges verdanke, jedenfalls, was meine philosophische Entwicklung betrifft.
Jetzt wieder zurück zum Thema. Warum ist das so, dass Sie mein Leben ruiniert haben? Nachdem ich Ihre Arbeit über die Absurdität eines Lebens ohne Gott gelesen hatte, wurde mir bald klar, dass ich ein Nihilist werden musste. Alles andere wäre inkonsequent. Nihilismus ist die logische Konsequenz einer atheistischen Weltsicht. Dennoch ist Nihilismus nicht lebbar. Christopher Hitchens pflegte zu sagen, dass man aus der Tatsache, dass jemand ein Atheist ist, keinerlei Schlüsse daraus ziehen kann, was derjenige/diejenige glaubt. Wenn jemand behauptet, ein Atheist zu sein, kann man daraus nur schlussfolgern, dass diese Person glaubt, dass „Gott nicht existiert“ oder dass ihr „ein Glaube an Gott fehlt.“ (Über die missbräuchliche Verwendung dieser Unterscheidung gäbe es viel zu sagen!!! Aber darauf möchte ich hier nicht näher eingehen [3]). Man kann nicht mehr als das folgern und z.B. wissen, ob die Person Marxist oder Kapitalist etc. ist. Aber Ihr Artikel zeigt, dass Hitchens offensichtlich darin falsch liegt. Atheismus führt unausweichlich zu nihilistischen Konsequenzen bei bestimmten Fragen, besonders bei jenen, die Sie in Ihrem Artikel nennen wie Bedeutung, Wert und Ziel.
Es gibt ein ähnliches Missverständnis, das zeigt, wie wenig Atheisten von dem Ernst ihrer eigenen Weltsicht begreifen. Ich habe das Gefühl, sagen zu müssen, wie enttäuscht ich von den Neuen Atheisten und noch mehr von den professionellen Philosophen bin, die das „Moral-Argument“ für Gottes Existenz [4] nicht verstehen. Warum können sie den Unterschied zwischen moralischer Epistemologie und moralischer Ontologie nicht verstehen? Was ist daran so schwer? Es ist doch nur allzu offensichtlich, dass Sie nicht davon sprechen, ob Menschen das „Gute“ praktizieren bzw. von etwas „Gutem“ auf der Grundlage des Atheismus wissen können, sondern davon, dass es keinerlei Grundlage für Moral außerhalb von Gott gibt. Es tut mir leid, dass ich jetzt so geschimpft habe, aber es stört mich, wenn Philosophen, die es eigentlich besser wissen sollten, das moralische Argument nicht verstehen. Ich kann nur versuchen, mir vorzustellen, wie frustriert Sie sich fühlen müssen. Außerdem hasse ich all die gemeinen Kommentare, die Sie auf YouTube bekommen. Die Leute verstehen doch gar nicht, wie gut durchdacht Ihre Argumentationen sind. Die von Ihnen beschriebene Weltsicht ist die stimmigste, die ich jemals gehört habe. Es tut mir leid, ich wollte nur sagen, dass Sie zumindest einen Atheisten an Ihrer Seite haben, mein Herr.
Nun komme ich zum eigentlichen Problem (endlich, entschuldigen Sie bitte):
In philosophischer Hinsicht stimme ich mit fast allem überein, was Sie sagen. Nicht, dass ich nun Ihr „Nachfolger“ wäre, aber in der Hinsicht, dass ich Ihre Darlegungen überzeugend und wahr finde oder bemerke, dass ich bei bestimmten Zusammenhängen, die ich selbst bereits durchdacht habe, zu denselben Schlussfolgerungen gelange. Obwohl ich das gesagt habe, bleibe ich immer noch Atheist. Wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass mein Lieblingsphilosoph Christ ist, ich mit den meisten seiner Aussagen übereinstimme und dennoch Atheist bin? Nun, mir scheint, dass Sie die Rationalität einer „abstrakten“ Vorstellung von Gott extrem überzeugend vertreten, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, diesen weiteren Schritt zu tun und an eine der Weltreligionen zu glauben (nicht, dass ich glaube, dass dieser abstrakte Gott tatsächlich auch existiert, es scheint mir nur immer plausibler zu werden). Ich kann mich definitiv nicht dazu überwinden, Christ zu werden. Der christliche Glaube scheint mir einfach nicht wahr zu sein. Je tiefer ich jedoch in die Philosophie eintauche, desto plausibler erscheint mir der theistische Ansatz zu sein. Mathematische Begriffe oder die „Sprache“ der Mathematik scheinen geradezu nach einer Erklärung „zu schreien“, wie Sie es formulieren, objektive moralische Werte scheinen real zu sein (sie können aber nicht „real“ sein, wenn der Atheismus wahr ist), der Begriff der „Existenz“ widert mich ohne Ende an (schon der Gedanke, dass irgendetwas überhaupt existiert und besonders ohne Grund existiert, erschreckt mich), und so könnte ich fortfahren. Sie wissen schon, all die Themen, über die Sie in Ihren YouTube-Videos sprechen.
Aber auch wenn ich nicht über die Argumente nachdenke und darüber nachdenke, was Sie und andere über den „Heiligen Geist“ gesagt haben, kann ich mich dennoch nicht dazu bringen, daran zu glauben, dass dieser „Heilige Geist“ existiert und meinen Glauben an Gott bestätigen kann. Wie Sie wissen, dachte Martin Luther, dass der Heilige Geist die Menschen beim Bibellesen richtig leiten würde, als die Reformation im Gange war, denn die katholische Kirche hatte die Sorge, dass die Menschen die Bibel ohne die Führung der Kirche falsch auslegen könnten. Die Fähigkeit des Heiligen Geistes, Menschen zur Erkenntnis führen zu können, scheint sich aber empirisch als falsch erwiesen zu haben, da es so eine große Vielfalt einander widersprechender Glaubensrichtungen gibt, die sich alle von der Bibel ableiten. Nun weiß ich, dass die Vielfalt der Glaubensrichtungen nicht automatisch zu der Schlussfolgerung führt, dass alle religiösen Glaubensrichtungen oder Erfahrungen falsch sind, dass es nicht zumindest einige dieser Glaubensrichtungen oder Erfahrungen gibt, die wahr sind, oder dass der Heilige Geist daher nicht existiert. Jedoch lässt diese Unstimmigkeit mich zögern, und die Situation wird dadurch so kompliziert, dass man anscheinend nicht in der Lage ist, zwischen einer authentischen Erfahrung mit dem Heiligen Geist und einer Täuschung seiner selbst zu unterscheiden. Offenbar gibt es nichts, das mir helfen könnte, die nihilistische Spur zu verlassen.In letzter Zeit frage ich mich auch, warum ich überhaupt die „Rationalität“ schätze, oder was es überhaupt bedeutet, der Rationalität aufgrund einer atheistischen Weltsicht einen „Wert“ beizumessen. Das ist aber, mit Verlaub, ein anderes Thema.
Lassen Sie mich meine unzusammenhängenden Ausführungen nun zusammenfassen. Ich bin festgefahren in einer nihilistisch-atheistischen Welt, die ich hasse. Der Agnostizismus ist in meinen Augen noch nicht einmal eine stimmige Position in Hinsicht auf ein Perfektes Wesen, weil ich glaube, dass das größte vorstellbare Wesen mich von seiner Existenz wissen lassen könnte, wenn es nur wollte. Theismus ist ein Wunschtraum. Die Welt würde einen Sinn haben, das Mysterium der Existenz, das mich heimsucht, würden gelöst werden, das Leben wäre wieder lebenswert. Jedoch scheint der Atheismus wahr zu sein, dennoch möchte ich nicht so (weiter)leben. Ich bin inzwischen unendlich deprimiert. Schon seit Jahren bin ich in dieser nihilistischen Spur. Ich bin vollkommen einsam geworden. Trotz alledem kann ich nicht an Gott glauben. Was würden SIE mir vorschlagen? Dieser Brief ist so aufrichtig wie möglich. Sie sind vielleicht meine letzte Hoffnung. Da ich mit Ihnen in so vielem einig bin, hege ich die Hoffnung, dass Sie die Antwort darauf haben. Ich weiß, dass die „Antwort“ der christliche Glaube ist, aber wie ich schon sagte, kann ich mich selbst nicht dazu bringen, an seine Wahrheit zu glauben. Ich bin ein Atheist, der den Atheismus hasst. Ich wünsche mir mehr als alles andere, dass es einen Gott gibt, dennoch schaffe ich es nicht, an einen zu glauben. Ich kann offenbar keine adäquate Antwort auf Camus´ Frage geben: „Ist das Leben wert, gelebt zu werden?“
Ich habe das Gefühl, dass ich nur in einem Philosophen Ihres Kalibers jemanden finden kann, an den ich mich wenden kann. Ein Psychologe würde meine Probleme nicht verstehen, jedenfalls glaube ich das nicht. Ich brauche die Klarheit und Vernünftigkeit eines Philosophen. Bitte, helfen Sie mir.
Ihr größter atheistischer Fan
Adam
P.S.: Tun Sie mir bitte einen Gefallen? Auch wenn Sie nie die Zeit finden, mir zu antworten. Bitte debattieren Sie nie wieder mit Lawrence Krauss. Da er über keinerlei philosophische Ausbildung verfügt, kann man hier nicht einmal von einem Streitgespräch im philosophischen Sinne sprechen. Er ist ein Schreihals, der nur heiße Luft produziert, keinerlei relevante Kritikpunkte äußert und die Argumente gar nicht versteht. Er verdient es nicht, das Gesicht des Atheismus zu sein, und das wissen wir beide. Aber vielleicht hatten Sie das ja vor.
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Adam, es ist so ermutigend, einen solchen Brief wie Ihren zu erhalten! Sie haben durch den Nebel der oftmals hasserfüllten Rhetorik hindurchgesehen und die wirklich wichtigen Fragen erkannt. Ihre Geschichte erinnert mich so sehr an C.S. Lewis, der als Wissenschaftler und Naturalist entdeckte, dass alles, was er für real hielt, bedeutungslos und nicht erfüllend war, wohingegen alles, was er liebte, wie z.B. Mythen, Legenden und Fantasy-Geschichten, imaginär und unwirklich war. Wie Sie näherte Lewis sich Christus allmählich an, indem er zunächst seinen Naturalismus und später seinen Skeptizismus gegenüber Jesus von Nazareth über Bord warf. Zuletzt zerriss Lewis die Fesseln des Naturalismus, die ihn gebunden hatten, und entdeckte in Christus den „wahren Mythos“, die „Verbindung von Vernunft und Vorstellung“. Wenn Sie sich einmal von Ihrem Atheismus befreit haben, werden Sie merken, dass der nächste Schritt zum christlichen Theismus relativ klein ist.
Sie erwähnen Ihre Skepsis gegenüber Luthers Glauben, dass der Heilige Geist „die Menschen beim Bibellesen richtig leiten würde“, denn „Die Fähigkeit des Heiligen Geistes, Menschen zur Erkenntnis führen zu können, scheint sich … empirisch als falsch erwiesen zu haben, da es so eine große Vielfalt einander widersprechender Glaubensrichtungen gibt, die sich alle von der Bibel ableiten.“ Nun hänge ich zwar dem Glauben, den Sie Luther zuschreiben, nicht unbedingt an, dennoch ist das von Ihnen vorgebrachte Argument dagegen nicht überzeugend. Um nun eine Unmenge an verschiedenen Interpretationen zu verhindern, wäre es nicht nur erforderlich, dass der Heilige Geist Menschen in die Wahrheit leiten würde, sondern ebenso, dass der Heilige Geist intervenieren würde, um abweichende Interpretationen der Bibel zu verhindern. Luther hat aber nie behauptet, dass Er das tut. Wenn Luther recht hat, wäre zu erwarten, dass die einen einer korrekten Interpretation anhängen und die anderen vom wahren Weg abkommen und abweichende Interpretationen vorbringen, und genauso ist es auch. Luthers Ansicht wäre nur dann widerlegt, wenn jeder von der Wahrheit abkäme.
Meiner Ansicht nach liefert der Heilige Geist den Gläubigen eine grundlegende Sicherheit darüber, dass ihre Beziehung zu Gott in Ordnung ist, Ungläubige dagegen überzeugt er davon, dass ihre Beziehung zu Gott nicht in Ordnung ist und dass sie daher Seine Vergebung und moralische Reinigung brauchen. Während dies zur Wahrheit bestimmter Kernaussagen des christlichen Glaubens führt, garantiert es nicht die richtige Interpretation biblischer Passagen, die wiederum erreicht wird durch die Anwendung angemessener hermeneutischer Verfahren der literarischen Interpretation.
Ich glaube, dass Sie den schwachen Punkt Ihres Einwands bereits entdeckt haben, denn Sie sagen: „Nun weiß ich, dass die Vielfalt der Glaubensrichtungen nicht automatisch zu der Schlussfolgerung führt, dass alle religiösen Glaubensrichtungen oder Erfahrungen falsch sind, dass es nicht zumindest einige dieser Glaubensrichtungen oder Erfahrungen gibt, die wahr sind, oder dass der Heilige Geist daher nicht existiert.“ Richtig; Sie müssen offen sein für das überzeugende Zeugnis des Geistes in Ihrem Leben, dass Sie Gottes Vergebung und Reinigung für Ihre moralischen Verfehlungen brauchen. Jedem, der sich einmal wirklich die Mühe macht, über das moralische Argument nachzudenken, sollte klarwerden, dass er, wenn objektive moralische Werte und Pflichten existieren, dem moralisch Guten hoffnungslos hinterherhinkt, also seinen moralischen Pflichten nicht nachkommt und daher Vergebung und Erlösung braucht. Tatsächlich denke ich, dass wohl niemand zum Glauben an Christus kommt, wenn er nicht zur Überzeugung gelangt, dass er schuldig ist und moralische Erneuerung braucht.
Sie loben meine Argumente für den Theismus, aber Sie gehen nicht auf meine gleicherweise gründliche Arbeit über die Historizität der Auferstehung Jesu ein, die aufgrund meiner Studien zu meiner Doktorarbeit unter Wolfhart Pannenberg an der Universität München entstanden ist. Ich war erstaunt, als ich als Ergebnis meiner Studien entdeckte, dass die wesentlichen Tatsachen zur Untermauerung der Historizität der Auferstehung Jesu tatsächlich von der Mehrheit der Wissenschaftler, die sich mit Jesus beschäftigen, nicht angezweifelt werden, und zwar nicht nur von konservativen Fachleuten, sondern vom breiten Mainstream der Fachwelt, die sich mit dem Neuen Testament beschäftigt, einschließlich einer ganzen Anzahl jüdischer Wissenschaftler, die an säkularen Universitäten und nicht-evangelikalen theologischen Hochschulen lehren. Meiner Meinung nach ist also der Glaube an Jesus historisch ziemlich gut begründet.
Nun kommen wir also zu der Eine-Millionen-Dollar-Frage: „Was würden SIE mir vorschlagen?“
Ich nehme diese Frage sehr ernst. Folgendes schlage ich Ihnen vor:
1. Lesen Sie C. S. Lewis´ Buch Surprised by Joy [5]. Ich glaube, dass Sie Lewis´ innere Kämpfe, mit denen er sich zunächst vom Atheismus und dann von seiner Skepsis dem christlichen Glauben gegenüber befreite, mitfühlen können.
2. Suchen Sie Erfahrungen, durch die Sie in Berührung mit dem Transzendenten kommen können. Sie müssen den süßlichen Verlockungen des Naturalismus entkommen, indem Sie flüchtige Einblicke in eine transzendente Realität jenseits der materiellen Welt erhaschen. Das wird Ihnen helfen, Ihr Herz für den Glauben an Gott vorzubereiten. Öffnen Sie sich für Erfahrungen vollendeter Schönheit. Hören Sie Schumann’s Träumerei, Dvorak’s Sinfonie Aus der Neuen Welt, Scheherazade von Rimsky-Korsakov und so weiter. Und wenn ich sage „hören Sie“, meine ich damit nicht Hintergrundmusik, während Sie Ihren Aufgaben nachgehen. Ich meine damit, alles andere beiseite zu lassen für eine bestimmte Zeit, Ihre Augen zu schließen und sich nur auf das Hören der Musik zu konzentrieren. Schauen Sie sich ein Video der berühmtenTurniertänzer Jonathan Crossley und Lyn Marriner beim Tanzen eines Walzers oder eines langsamen Foxtrotts an. Trinken Sie die atemberaubende Schönheit ihres Tanzes. Beobachten Sie einen Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang über einer schönen Landschaft oder nehmen Sie die Schönheit unberührter Natur in sich auf. Manchmal kann solche Schönheit uns geradezu wehtun, weil wir nicht dazu fähig sind, sie ganz in uns aufzunehmen.
3. Lesen Sie die Evangelien über das Leben Jesu. Wenn Sie das noch nicht getan haben, wird seine Lebensgeschichte Sie mitreißen. Jesus ist eine ungeheuer attraktive Person durch die Weisheit seiner Lehre, durch seinen Charakter und durch die Authentizität seines Lebens.
4. Untersuchen Sie die historische Glaubwürdigkeit der persönlichen Ansprüche und der Auferstehung von Jesus. Lesen Sie z.B. die entsprechenden Kapitel in Reasonable Faith (Crossway, 2008). Lesen Sie meine Debatten mit skeptischen Kritikern des Neuen Testaments wie John Dominic Crossan (Will the Real Jesus Please Stand Up?, ed. Paul Copan [Baker, 1998] oder mit Gerd Lüdemann (The Resurrection: Fact or Figment?, herausgegeben von Paul Copan [Inter-Varsity, 2000] und fragen Sie sich, in welche Richtung die Indizien weisen.
5. Gehen Sie an Bord eines spirituellen Experiments. Beginnen Sie damit, täglich zu beten. Besuchen Sie eine Kirche, wo das Evangelium originalgetreu gepredigt wird und wo Sie mit Christen zusammen sein können, um diese kennenzulernen. Sie werden sehen, dass diese Leute anders sind als gewöhnliche Menschen, denen Sie begegnen, nachdenklicher, mit mehr Mitgefühl, und mehr auf spirituelle Dinge fokussiert.
6. Und schließlich, besorgen Sie sich eine Ausgabe des Gedichts von Francis Thompson “The Hound of Heaven.” [6] Die darin beschriebene Person sind Sie, Adam! „With unhurrying chase, and unperturbèd pace, deliberate speed, majestic instancy,” wird Er Ihnen nachgehen und Seine Suche solange fortsetzen, bis Sie in Ihm alles erkennen, wonach Sie sich sehnen.
(Übers.: J. Bothner)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/you-have-ruined-my-life-professor-craig
[1]
California State University, Los Angeles (Anm. d. Übers.)
[2]
Deutsche Übersetzung des Artikels: http://www.reasonablefaith.org/german/popular/absurdity-of-life-without-god
[3]
Traditionell wurde "Atheismus" als die Sichtweise "Es gibt keinen Gott" bzw. "Gott existiert nicht" verstanden. Der atheistische Philosoph Antony Flew (1923-2010) definierte Atheismus hingegen als "Abwesenheit eines Glaubens an Gott"; wenn diese Definition stimmt, hat ein Atheist selber keinerlei Thesen zu verteidigen, und kann sich darauf beschränken, z.B. den Theismus anzugreifen. Zu einer Begründung, warum diese Definition von Flew nicht trägt, siehe u.a. Frage der Woche 6: "Die Definition von Atheismus", http://www.reasonablefaith.org/german/qa6.(Anm.d.Übers.)
[4]
Das Moral-Argument für die Existenz Gottes lautet in der von W.L. Craig verteidigten Version wie folgt:P1: Wenn es keinen Gott gibt, gibt es keine objektiv gültigen Werte und Pflichten.
P2: Es gibt aber objektiv gültige Werte und Pflichten.
K: Also gibt es einen Gott.
Ein wichtiger Aspekt im Moral-Argument ist die Unterscheidung zwischen moralischer Epistemologie (wie können wir objektive moralische Werte erkennen?) und moralischer Ontologie (gibt es objektiv gültige moralische Werte und Pflichten?). Das Argument behauptet lediglich, dass es objektiv gültige Werte und Pflichten gibt; es muss aber nicht der Fall sein, dass jeder sie in gleichem Maße erkennen kann.
(Anm. d. Übers.)
[5]
Deutsche Übersetzung: C.S. Lewis: Überrascht von Freude. Eine Autobiographie. Brunnen 1992.
[6]
Francis Thompson (1859-1907) gilt als einer der größten Englischen Poeten des 19. Jahrhunderts. Sein Gedicht "The Hound of Heaven" wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt, u.a. von Theodor Haecker ("Der Jagdhund des Himmels", 1925), Elisabeth Kawa und Paul Wühr. https://de.wikipedia.org/wiki/Francis_Thompson.
(Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig