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#347 „Objektive“ oder „absolute“ moralische Werte?

#347 „Objektive“ oder „absolute“ moralische Werte?

January 14, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

zunächst möchte ich Sie meines bleibenden Dankes für Ihr Engagement zur Verteidigung des Glaubens versichern und auch dafür, dass Sie die Gemeinde auf die Herausforderungen unseres zunehmend verweltlichten Zeitalters vorbereiten. Ich selbst bin stark von ihrem Werk beeinflusst worden und stehe kurz davor, die Vorbereitungen für die Leitung einer Ortsgruppe von Reasonable Faith im Westen von Texas abzuschließen.

Heute würde ich von Ihnen gerne wissen, wo Sie persönlich den Unterschied zwischen absoluten und objektiven Moralvorstellungen ansetzen.

Ich habe Sie über diese Thematik bei einer Fragerunde auf einer Ihrer Europareisen sprechen hören. Sie haben da gesagt, es sei Ihnen wichtig, von „objektiv gültiger“ Moral zu sprechen, nicht von „absoluter“ Moral. Ich wüsste nicht, dass Sie das näher ausgeführt hätten.

In Ihrer Debatte mit Sam Harris widerlegten Sie die Auffassung, Sie träten für eine Position ein, die ein „universelles“ System der Moral verficht, beteuerten aber, objektive Moralvorstellungen und Pflichten seien ein Beleg für die Existenz Gottes. Mir ist aufgefallen, Sie definieren in „Reasonable Faith“ und in „On Guard“ den Begriff der Objektivität so: „Objektiv“ ist etwas dann, wenn es nicht von menschlichem Ermessen oder Wissen abhänge. Objektivität bedeutet demnach einfach gültig und bindend, egal, was der Mensch dazu meint.

Als ich einen apologetischen Missionseinsatz an ein örtliches College begleitete, hörte ich, wie man u. a. über das Moralargument sprach. Einer der Atheisten sagte in etwa:

„Wenn Sie vom ,Absoluten‘ sprechen, kann ich mir nicht vorstellen, was damit gemeint sein soll. Wenn Christen von ,absoluter Wahrheit‘ oder ,absoluten Moralvorstellungen‘ sprechen, dann hört sich das für mich nicht anders an, als sprächen sie von Objektivität. Die Begriffe ,absolut‘ bzw. ,objektiv‘ scheinen mir fast ausnahmslos ohne bedeutsamen Unterschied synonym zu sein.“

Da Sie das Moralargument ja sehr ausführlich besprochen haben, ja, vor dem Hintergrund Ihrer Bildung ist mir klar, dass Sie sich mit dieser Frage beschäftigt haben und auch eine Antwort darauf haben. Ich hoffe, Sie werfen etwas Licht auf diesen Gegenstand – für mich und für andere. Vielen Dank noch einmal für alles, was Sie im Namen Jesu tun. Gott segne Sie!

Joshua

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Zunächst ein herzliches Dankeschön, dass Sie für Reasonable Faith tätig sind, Joshua! Ich wünsche Ihrer Ortsgruppe gutes Gelingen!

Der Grund, aus dem ich lieber von „objektiven Moralvorstellungen“ als von „absoluten Moralvorstellungen und -pflichten“ spreche, wird am besten klar, wenn man jeweils den gegenteiligen Begriff betrachtet. Das Gegenteil von „objektiv“ ist „subjektiv“; das Gegenteil von „absolut“ ist „relativ“. Es bedarf keines tiefschürfenden Nachdenkens, um zu erkennen, dass „relativ“ nicht gleich „subjektiv“ ist. Aus der umstandsbezogenen und daher „relativen“ Abhängigkeit von jemandes moralischer Verpflichtung kann man noch lange nicht auf deren Subjektivitätscharakter schließen; nur, weil eine moralisch richtige Handlung relativ zu den Umständen anders sein kann, kann man doch nicht sagen, dass es deshalb in dieser Situation kein objektiv richtiges oder falsches Handeln geben könne. Die Unterscheidung objektiv/subjektiv ist somit nicht dieselbe wie der Unterschied absolut/relativ.

„Absolut“ bedeutet: „unabhängig von Umständen“. „Relativ“ dagegen bedeutet „je nach Umständen“. Wir können beispielsweise sagen, es sei nicht absolut falsch, jemanden zu töten. Es mag Umstände geben, unter welchem die Tötung eines Menschen moralisch gerechtfertigt oder gar geboten ist. Zu behaupten, jemandes moralische Pflicht variiere je nach Umständen, bedeutet nicht, er unterstehe keiner objektiv-moralischen Pflicht.

„Objektiv“ bedeutet „unabhängig von der Meinung von Menschen (inklusive der eigenen Meinung)“. „Subjektiv“ bedeutet „lediglich eine Sache des eigenen Ermessens“. Wenn wir objektiven moralischen Pflichten unterliegen, dann heißt das, dass es je nach den Umständen bestimmte Handlungen gibt, die vorgeschrieben sind, andere hingegen, die verboten sind, und zwar unabhängig davon, was wir persönlich darüber denken mögen.

Gleichermaßen gehe ich davon aus, dass Sie zustimmen, dass es auch nicht um universale Akzeptanz geht. Universale Akzeptanz heißt nicht Objektivität; die universale Akzeptanz eines Moralkodex könnte einfach als Hinweis auf Meinungsgleichheit gelesen werden (die uns etwa von der Evolution eingeprägt worden sein könnte). Und ebenso wenig muss Objektivität die allgemeine Akzeptanz implizieren – zu gewissen Zeiten und Umständen mögen manche Handlungen (z. B. sich in einer bestimmten Art zu kleiden) objektiv falsch, an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit hingegen moralisch als vertretbar angesehen werden.

Klare Unterscheidungen zu treffen ist im Hinblick auf das Moralargument von entscheidender Bedeutung, denn die Behauptung „absoluter Moralvorstellungen und -pflichten“ stößt zurecht auf stärkere Gegenwehr als die Behauptung „objektiver Moralvorstellungen und -pflichten“. Das verstünde man nämlich so, als wollte jemand sagen, bestimmte Dinge seien immer richtig oder immer falsch, unabhängig von den Umständen, eine Aussage, der Sie ja bestimmt nicht zustimmen werden. Es geht also darum: Wenn Gott existiert, gibt es auch objektiv gültige moralische Werte, und dann haben wir auch objektive moralische Pflichten zu erfüllen, je nach Umständen. Doch die Objektivität dieser Vorstellungen und Pflichten bedeuten nicht, dass sie sich unter anderen Umständen nicht auch ändern können. Sie sind objektiv, ob sie nun absolut gelten oder universal akzeptiert sind oder nicht.

Wenn man sich hier um genaue Unterscheidungen bemüht, wird man viel Verwirrung vermeiden!

(Übers.: I. Carobbio)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/objective-or-absolute-moral-values

– William Lane Craig

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