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#408 Was bringt das Gebet?

#408 Was bringt das Gebet?

November 01, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

Vor kurzem bin ich vom Christen zum Agnostiker geworden, lese jedoch regelmäßig Ihre Rubrik „Frage der Woche“, denn vieles darin klingt vernünftiger und liefert mir mehr Stoff zum Nachdenken als das, was ich von vielen Evangelikalen zu hören bekomme.

Also kam ich zu dem Schluss, dass Sie die Antwort auf meine Frage geben könnten, wenn es überhaupt eine Antwort darauf gibt.

Meine Frage lautet: Wozu soll man eigentlich beten? Gebet ist hier definiert als Versuch, mit Gott zu kommunizieren.

Entweder kann Gott unsere Gedanken lesen oder er kann es nicht. Wenn er unsere Gedanken lesen kann, ist es ganz sicher nicht nötig, zu versuchen, ihm diese weiterzuleiten oder zu senden, da er sie schon kennt. Kann er aber unsere Gedanken nicht lesen, dann ist jeder gedankliche Versuch, ihn zu kontaktieren, nutzlos. Dabei spielt es keine Rolle, um welchen Typ von Gebet es sich handelt (z.B. Bitte, Dank, Bußgebet), es hat keinen Sinn, einen Versuch zu machen, es zu ihm hinauf zu senden.

Nun gehen Christen selbstverständlich davon aus, dass Gott allwissend und von daher in der Lage ist, unsere Gedanken zu lesen, daher trifft wohl die erste Vorstellung zu. Durch seine Allwissenheit erübrigt sich Beten erst recht, denn es bedeutet ja, dass Gott schon jede Information, die man ihm kommunizieren könnte, bereits kennt und auch genau weiß, was am besten zu tun ist, so dass das Gebet seine Entscheidungen in keiner Weise beeinflussen könnte.

Mir ist sehr wohl bewusst, dass uns die Bibel an vielen Stellen befiehlt zu beten, aber im Licht dieser Gedankengänge gesehen kommt mir dieser Befehl für einen guten Gott unglaublich willkürlich vor und stellt von daher die Zuverlässigkeit der Bibel für mich umso mehr in Frage.

Augenblicklich scheint mir, dass die Idee des Betens am vernünftigsten erklärt werden kann als ein suchterzeugendes Placebo, das Menschen das Gefühl von mehr Macht über ihre Umstände gibt, als sie in Wirklichkeit haben.

Aber es könnte ja sein, dass ich etwas Entscheidendes übersehen habe, daher wäre ich dankbar, wenn Sie mir zeigen könnten, was.

Vielen Dank.

Joe

United Kingdom

Prof. Craigs Antwort

A

Du meine Güte, Joe, Ihre Gründe, vom Christen zum Agnostiker zu werden, sollten eigentlich noch viel überzeugender sein, sonst sind Sie in wirklicher Gefahr, rückfällig zu werden!

Ja, Gott kann unsere Gedanken lesen. Warum soll das nun problematisch sein für die geistliche Disziplin des Betens? Sie sagen: „… ist es ganz sicher nicht nötig, zu versuchen, ihm diese weiterzuleiten oder zu senden, da er sie schon kennt.“ Passen Sie auf, Joe! Glauben Sie denn allen Ernstes, dass Gebet ein Weg ist, Gott Informationen zukommen zu lassen? Sie haben Gebet als Kommunikation mit Gott definiert. Man kommuniziert nicht mit einer anderen Person durch eine dritte Person. Man tritt in eine sogenannte „Ich-du“-Beziehung ein. Sie sprechen zu einer anderen Person, nicht nur über diese Person. Ihre Freundin oder Frau wäre sicher ganz und gar nicht begeistert, wenn Sie damit aufhören würden, „Ich liebe dich“ zu sagen aufgrund der Tatsache, dass sie das ja schon weiß! Wenn jemand so emotional beschränkt wäre, würde die Beziehung wohl nicht mehr lange halten! Zwei Menschen, die einander lieben, möchten das einander auch sagen, um eine enge Beziehung miteinander aufzubauen.

Sicherlich kann Gott meine Gedanken lesen, und das ermöglicht es mir, jederzeit zu Ihm zu beten, auch dann, wenn hörbare Gebete unangebracht wären. Ich kann kurz ein Stoßgebet hochschicken wie z.B. „Danke, Herr!“ oder „Gott, gib mir Weisheit!“. Das machen Menschen in einer Beziehung auch. Können Sie sich jemanden vorstellen, der so stumpfsinnig wäre und beispielsweise sagen würde „Ich muss Johannes nicht dafür danken, was er für mich getan hat, weil er ja schon weiß, dass ich dankbar bin“? oder „Ich muss mich nicht bei Susanne entschuldigen, weil sie ja schon weiß, dass es mir leid tut?“

Außerdem, ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, dass eine solche persönliche Kommunikation gut für Sie sein könnte? In einer Ich-Du-Beziehung wird ihr Inneres offener, so dass Sie eine liebevollere, transparentere und verwundbarere Person werden. Gebet zu Gott ist dasselbe. Gott weiß, was gut für uns ist und will daher, dass wir zu ihm reden.

Joe, ich spreche hier natürlich über die Gebete einer Person, die eine geistliche Wiedergeburt erlebt hat und daher in einer richtigen Beziehung zu Gott steht. Ich spreche nicht über mechanisch dahergesagte Routinegebete oder schriftlich abgefasste Gebete, die von einem nichtgläubigen Menschen rezitiert werden. Zweifellos ist diese Sorte Gebet für Sie als Agnostiker bedeutungslos. Ihr Gebet muss etwa so lauten: „Gott, offenbare dich mir! Ich öffne mein Herz und Leben für dich.“

Sie haben noch einen weiteren Einwand gegen das Gebet: „Durch seine Allwissenheit erübrigt sich Beten erst recht, denn es bedeutet ja, dass Gott schon jede Information, die man ihm kommunizieren könnte, bereits kennt und auch genau weiß, was am besten zu tun ist, so dass das Gebet seine Entscheidungen in keiner Weise beeinflussen könnte.“ Das ist ein Einwand bezüglich der Effizienz von Gebet. Darin wird aber übersehen, dass Gott Gebete (oder auch deren Nicht-Vorhandensein) in Seine Vorausplanung der Welt einbeziehen kann. In dem Wissen, dass Joe unter bestimmten Umständen frei beten würde, wird Gott vielleicht eine Welt verwirklichen, in der Joes Gebete beantwortet werden; hätte Gott aber gewusst, dass Joe nicht beten würde, hätte Gott stattdessen etwas anderes verwirklicht. Gebete sind schließlich nicht ein Versuch, Gott umzustimmen. Es verhält sich eher so, dass Gott bei seiner Entscheidung, welche Welt er verwirklichen soll, Gebete in Betracht zieht. So machen Gebete einen kontrafaktischen Unterschied: hätte ich nicht gebetet, wäre stattdessen etwas anderes eingetreten. Solches Wissen von Gott wird „mittleres Wissen“ genannt. Hier auf Reasonable Faith finden Sie mehr zu diesem faszinierenden Thema. [1]

Aufgrund Ihrer Frage, Joe, drängt sich mir unweigerlich der Verdacht auf, dass Sie in Ihrer Zeit als Namenschrist niemals wirklich eine wahre Beziehung zu Gott erfahren haben. Wenn das stimmt, könnte der Schritt weg von einer rein nominellen, leblosen Religion der erste Schritt hin zu einer lebensverändernden, geistlichen Beziehung mit Gott sein. Bleiben Sie dran!

(Übers.: J. Bothner)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/what-is-the-point-of-prayer

[1]

Zum Thema des "mittleren Wissens" siehe z.B. Frage der Woche 138: "Göttliche Souveränität und Quanten-Indeterminismus", http://www.reasonablefaith.org/german/qa138 mit einer guten Einführung.

Siehe auch Frage 23, "Mittleres Wissen", http://www.reasonablefaith.org/german/qa23.

W.L. Craigs Buch "The Only Wise God" (bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt) befasst sich ausführlicher mit der Thematik des Mittleren Wissens. (Anm. d. Übers.)

– William Lane Craig

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