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#424 Warum kann Gott nicht einfach das „größte existierende Wesen“ sein?

#424 Warum kann Gott nicht einfach das „größte existierende Wesen“ sein?

January 14, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

diese Frage kam mir, nachdem ich Ihren "Defenders Podcast" über das ontologische Argument [1] angehört habe.

Meine Frage an Sie ist: Muss ein maximal großes Wesen notwendigerweise so sein, wie wir Menschen es uns als das größte denkbare Wesen vorstellen können? Kann es nicht sein, dass dieses Wesen (Gott) einfach das größte aller wirklich existierenden Wesen ist, (da nichts Größeres in der Wirklichkeit existiert), aber nicht das größte vorstellbare Wesen ist? Warum muss unsere Vorstellung eines noch größeren Wesens der Größe des größten existierenden Wesens irgendwie abträglich sein? Selbst wenn wir uns ein größeres Wesen vorstellen könnten, könnte es dann nicht sein, dass diese "noch größeren / noch höheren Eigenschaften" unnötig sind und daher nicht wirklich "großmachende" Eigenschaften sind?

Zum Beispiel: Muss Gott unbedingt allmächtig sein? Reicht es nicht, wenn er einfach das Wesen des Universums ist, welches mehr Macht als alle anderen Wesen des Universums hat, statt in dieser Eigenschaft unbegrenzt zu sein?

Meine Frage ist also: Ist es möglich, dass das größte Wesen (Gott) einfach das größte aller existierenden Wesen ist, ohne deshalb notwendig das "größte denkbare" Wesen zu sein?

Ich bin ein 18-jähriger Schüler und komme aus Schweden. Ich stelle diese Frage als Christ, der glaubt, dass die Bibel das Wort Gottes ist. Ich schätze Ihre Arbeit sehr, Herr Prof. Craig. Ihr Dienst war mir und einigen Glaubensgeschwistern in Stockholm eine enorme Hilfe.

Tomas

Sweden

Prof. Craigs Antwort

A

Was auch immer wir vom ontologischen Argument halten, so stehen wir jedenfalls alle in Anselm von Canterburys Schuld, dass er uns geholfen hat, eine angemessenere Vorstellung von Gott zu haben. Nach Anselm ist Gott das Wesen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. (Latein: aliquid quo nihil maius cogitari possit). Diese Definition macht Gott nicht abhängig von menschlicher Vorstellungskraft. „Denkbar“ heißt hier: möglich. Gott ist das größte mögliche Wesen, das heißt es ist unmöglich, dass es ein größeres Wesen gibt als Gott.

Es ist aber offensichtlich nicht angemessen, sich Gott lediglich als das größte vorhandene Wesen vorzustellen. Denn das würde nicht ausschließen, dass Gott in der einen oder anderen Weise unvollkommen sein könnte. Zum Beispiel könnte Gott in seiner Güte, seinem Wissen oder seiner Macht beschränkt sein. Die Heiden der Antike stellten sich möglicherweise Zeus als das größte vorhandene Sein vor, aber er war so endlich und fehlerbehaftet, dass er sich uns kaum als Gegenstand der Anbetung empfiehlt. Hingegen wäre der Atheismus sogar mit der Vorstellung eines größten Seins in dieser Welt vereinbar.

Ein angemessenes Konzept von Gott erfordert, dass Gott zu einem bestimmten Grad tatsächlich diese Eigenschaften besitzt, die ihn groß machen. Bis zu was für einem Grad? Die am wenigsten willkürliche und intuitiv überzeugendste Antwort ist: Bis zum größtmöglichen Grad. Diese Antwort ehrt Gott, indem sie seine Größe erhebt, und scheint so die angemessenste religiöse Antwort zu sein. Aber mehr als das! Denken Sie an die Alternative: Wenn Gott nicht das größte mögliche Sein ist, dann wäre es möglich, dass es ein Sein gibt, das größer als Gott wäre, und Gott wäre verpflichtet, vor diesem Sein niederzufallen und es anzubeten. Das ist unmöglich, denn dann wäre Gott nicht Gott. Sicherlich glauben Sie nicht, dass Gott nur kontingenterweise (also nur zufälligerweise) Gott ist.

Nun zu Ihren Fragen im einzelnen: „Muss ein maximal großes Wesen notwendigerweise so sein, wie wir Menschen es uns als das größte denkbare Wesen vorstellen können?" Nein. Wir können irren und wir machen vielleicht Fehler, wenn wir überlegen, woraus wirkliche Größe besteht. Zum Beispiel dachten die mittelalterlichen Theologen, dass Gott größer wäre, wenn er zeitlos und einfach ist und weder "fühlt" noch "leidet". Wenige heutige Denker würden mit diesem Urteil übereinstimmen. Nun, egal ob die früheren Denker oder wir Recht haben, der Unterschied zeigt, dass unsere Auffassung dessen, was wahre Größe ausmacht, nicht unfehlbar ist. Allerdings sind einige Eigenschaften wie moralische Vollkommenheit, Allwissenheit und Allmacht offensichtlich groß-machende Eigenschaften.

Sie fragen: „Selbst wenn wir uns ein größeres Wesen vorstellen könnten, könnte es dann nicht sein, dass diese "noch größeren / noch höheren Eigenschaften" unnötig sind und daher nicht wirklich "großmachende" Eigenschaften sind?“.

Antwort: Ja, natürlich, wie die obigen Beispiele zeigen. Aber das ist etwas ganz anderes als zu bestreiten, dass Gott das größtmögliche Wesen ist. Wir könnten fälschlicherweise einen Gott ohne Gefühle oder ohne Leidensfähigkeit als größer einschätzen als einen, der in der Lage ist zu leiden, aber das würde nur zeigen, dass wir den falschen Begriff des größten denkbaren Wesens haben. Gott ist notwendigerweise das größtmögliche Wesen, selbst wenn unser Begriff eines solchen Wesens fehlerhaft ist und eventuell korrigiert oder angepasst werden muss.

William Lane Craig

(Übers.: M. Ebeling und R.N.)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/why-cant-god-be-just-the-greatest-being

Zum Hintergrund der Frage:Im ontologischen Argument von Anselm von Canterbury (1033-1109) spielt der Begriff des "Wesens, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann", eine zentrale Rolle.

Anselm argumentiert in etwa wie folgt:

– Der Atheist sagt: "Gott existiert nicht".

– Während er diesen Satz sagt, muss er auch das Wort "Gott" denken.

– Wenn der Atheist sagt "Gott existiert nicht", sagt er mit anderen Worten: "Das Wesen, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann (Gott) existiert nicht in Wirklichkeit, sondern nur in meinem Verstand".

– Ein Gott, der in Wirklichkeit existiert, ist aber größer als einer, der nur im Verstand existiert. Angenommen, beide haben ansonsten die gleichen Eigenschaften (Allmacht, Güte, Gerechtigkeit, Allwissenheit etc.). Der Gott, der existiert, hat aber die zusätzliche Eigenschaft der Existenz.

– Dann gibt es also doch etwas, das größer ist als das, was sich der Atheist vorstellt, nämlich Gott, der die gleichen Eigenschaften hat wie der von ihm vorgestellte (der ja in seiner Meinung nicht existiert), plus die zusätzliche Eigenschaft der Existenz.

– Somit kann der Atheist nicht denken "Gott (also das Wesen, über das hinaus nichts größeres gedacht werden kann) existiert nicht", ohne einen Selbstwiderspruch zu denken. Denn wenn er nicht existiert, ist er nicht "das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann".

Ein Einwand des Zeitgenossen von Anselm, des Mönches Gaunilo, war, dass man doch willkürlich andere "maximal große" Dinge definieren könnte, die aber deshalb noch lange nicht existieren müssten, z.B. eine "maximal große Insel". Diese Dinge könnte man sich auch denken, allerdings ergebe sich daraus nicht automatisch deren Existenz. Anselms Antwort auf diesen Einwand war, dass "maximal große Insel" kein kohärenter Begriff sei. Eine Insel sei ein physischer Gegenstand, und von physischen Gegenständen könne man nicht sagen, wann diese maximal groß oder maximal vortrefflich seien. Es sei z.B. unklar, ob eine Insel dann ideal sei, wenn sie 1km groß, 10km groß oder 100km groß sei. Etc.

Immanuel Kant (1724-1804) wandte gegen das ontologische Argument (welches er vermutlich nur in der von René Descartes vertretenen Form kannte) u.a. ein, Existenz sei kein Prädikat. 100 wirklich existierende Taler hätten die gleichen Eigenschaften wie 100 gedachte Taler; mit der Existenz sei kein zusätzliches Prädikat (also keine Eigenschaft) gegeben.

Alvin Plantingas modernes modallogisches ontologisches Argument kommt allerdings ohne die Annahme aus, Existenz sei ein Prädikat. Das Argument lautet in der Formulierung Plantingas zusammengefasst etwa so:

– Es ist möglich, dass Gott existiert.

– D.h. es ist möglich, dass ein maximal großes Wesen (Gott) existiert.

– Wenn es möglich ist, dass ein maximal großes Wesen existiert, dann existiert es in mindestens einer möglichen Welt. (Denn das ist die modallogische Definition von "möglich sein"; wenn etwas möglich ist, dann gibt es eine mögliche Welt, wo dies der Fall ist).

– Wenn ein maximal großes Wesen in einer möglichen Welt existiert, existiert es auch in allen möglichen Welten. (Denn das ist die Definition von "maximale Größe"; ein Wesen, das nur in 10 möglichen Welten existiert, ist nicht so groß wie ein Wesen, das in 20 möglichen Welten existiert, etc.). Maximale Größe hieße, das Wesen existiert in allen möglichen Welten.

– Wenn ein maximal großes Wesen in jeder möglichen Welt existiert, existiert es auch in der realen Welt. Also existiert Gott. (Etc.)

Einige vorangehende Fragen zum ontologischen Argument für die Existenz Gottes finden sich z.B. hier: Frage #51 und #204, siehe: http://www.reasonablefaith.org/german/question-answer.(A.d.L.)

[1]

Siehe z.B. http://www.reasonablefaith.org/defenders-2-podcast/s4, lectures 23-25.

– William Lane Craig

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