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#463 Im Clinch mit dem ontologischen

#462 Gravitationswellen entdeckt!

November 10, 2016

F

Ich bin ein 17-jähriger Inder, der im Mittleren Osten wohnt und großer Fan Ihrer Arbeit für Christus ist. Meine Frage betrifft die jüngsten Entdeckungen in der Physik. Welchen Einfluss hat die Entdeckung der Gravitationswellen auf die Lorentzsche Relativität, das Kalām-Argument und die A-Theorie der Zeit?

Xavi

India

Prof. Craigs Antwort

A

Die Nachricht, dass Experimentalphysiker Gravitationswellen entdeckt haben, ist ein weiterer Triumph für Einsteins Gravitationstheorie, die sog. Allgemeine Relativitätstheorie, die letztlich zur Voraussage des Anfangs des Universums zu einem bestimmten Zeitpunkt in der endlichen Vergangenheit geführt hat.

„Welchen Einfluss hat die Entdeckung der Gravitationswellen auf die Lorentzsche Relativität?“ Einsteins Zeitgenosse H. A. Lorentz, dessen Gleichungen das Herzstück der Speziellen Relativitätstheorie bilden, war sich mit Einstein uneins über die physikalische Interpretation der Gleichungen. Da Lorentz im Unterschied zu Einstein kein Verifikationist war, hielt er die Annahme, dass absolute Größen wie Dauer und Länge selbst dann existieren, wenn sie sich nicht empirisch nachweisen lassen, für vollkommen legitim. Nach Lorentz' Ansicht ist die wahrgenommene Relativität von Zeit und Raum durch die Verzerrung unserer physikalischen Geräte bedingt, wenn diese sich in absoluter Bewegung befinden. Bei dem berühmten Michelson-Morley-Experiment im Jahre 1887 gelang es deren Interferometer nicht, die absolute Bewegung der Erde zu ermitteln, weil die Arme des Geräts, durch die die Lichtstrahlen geleitet werden, in der Bewegungsrichtung schrumpfen.

Bei dem Ligo-Experiment werden Laserstrahlen auf ähnliche Weise in den zwei Armen einer ähnlich aufgebauten Interferometer-Vorrichtung gemessen. Die von den Laserstrahlen erzeugten Interferenzmuster zeigen, dass sich die Länge der beiden Arme aufgrund der Gravitationswellen verändert. Das ist aber genau das, was Lorentz erwartet hätte: Unsere physikalischen Messgeräte werden durch die auf sie wirkenden Kausalkräfte verzerrt.

Bei der Anwendung der Allgemeinen Relativitätstheorie auf die Kosmologie tritt die kosmische Zeit auf den Plan. Sie ist ein Parameter, der von räumlichen Koordinaten unabhängig und deshalb für alle Beobachter im Universum – ungeachtet ihrer Bewegung – gleich ist. Wenn Kosmologen das Alter des Universums auf 13,8 Milliarden Jahre bestimmen, meinen sie damit also nicht die Weltzeit, sondern die kosmische Zeit, die für alle Beobachter gleich ist und mit der das Alter des Universums seit seinem Anfang genau berechnet wird. Die Existenz einer solchen kosmischen Zeit liegt auf einer Linie mit Lorentz’ Ansichten und bedeutet wirklich eine Art Auferstehung der absoluten Zeit.

„Welchen Einfluss hat die Entdeckung der Gravitationswellen auf das Kalām-Argument?“ Durch die Bestätigung einer weiteren experimentellen Voraussage der Allgemeinen Relativitätstheorie bekräftigt der Nachweis der Gravitationswellen diese Theorie und somit auch das auf ihr beruhende kosmologische Modell. Das Big-Bang-Standardmodell sagt den Anfang des Universums voraus und liefert auf diese Weise empirische Belege zur Abstützung der Prämisse 2 des kalām-kosmologischen Arguments: „Das Universum hat einmal angefangen zu existieren“.

Doch das ist noch nicht alles. Einige Physiker zeigten sich skeptisch in Bezug auf unsere Fähigkeit, die Vergangenheit des Universums tiefer zu erforschen, weil das frühe Universum aufgrund seiner großen Dichte kein Licht emittierte. Da die Geräte, mit denen wir in den Weltraum und somit in die Vergangenheit blicken, bisher auf elektromagnetischer Strahlung beruht haben (wie z.B. sichtbares Licht, Radiowellen, Röntgenstrahlen usw.), waren die Astronomen auf einen Horizont gestoßen, über den sie nicht hinaussehen konnten. Und genau das ist es, was die Wissenschaftler so sehr in Erregung versetzt hat: Gravitationswellen ermöglichen es uns, über diese Barriere hinaus- und tiefer in die Vergangenheit zurückzublicken.

Neil Turok, Direktor des Perimeter Institute for Theoretical Physics an der Universität Waterloo in Kanada, wird wie folgt zitiert:

„Das Aufregendste für mich ist, dass wir den Big Bang buchstäblich sehen werden können. Bei der Messung elektromagnetischer Wellen können wir nicht weiter als bis 400.000 Jahre nach dem Big Bang zurückblicken. Das frühe Universum war lichtundurchlässig. Gegenüber Gravitationswellen ist es aber nicht undurchlässig, sondern vollkommen transparent.

So werden wir durch das Messen von Gravitationswellen in die Lage versetzt zu sehen, was sich genau beim Urknall, der anfänglichen Singularität, ereignete. Die sonderbarste und wundersamste Voraussage von Einsteins Theorie war, dass alles aus einem singulären Ereignis, dem Big Bang, hervorging. Und wir werden sehen können, was da passierte." [1]

Wenn Astronomen Gravitationswellen verwenden können, um das zu tun, was Turok sich vorstellt, wird auch die letzte Bastion jenes Skeptizismus fallen, der bestreitet, dass das Universum zu existieren begann.

Schließlich: „Welchen Einfluss hat die Entdeckung der Gravitationswellen auf die A-Theorie der Zeit?“ Die Entdeckung ist neutral in Bezug darauf, ob man eine zeitliche Theorie (A-Theorie) der Zeit oder eine zeitlose Theorie (B-Theorie) der Zeit vertritt. Bei der zeitlosen Interpretation werden Gravitationswellen als Kräuselungen in der Geometrie der Raumzeit aufgefasst. An einem Blatt Papier wären sie Knitter. In der A-Theorie würden sie als sich mit endlicher Geschwindigkeit durch den Raum ausbreitende Strahlen erscheinen. Es ist interessant, wie diese beiden Interpretationen in populärwissenschaftlichen Darstellungen miteinander verschmelzen. Gravitationswellen werden da als an uns vorüberziehende Kräuselungen in der Raumzeit beschrieben. Das ist aber inkohärent. Da Zeit schon in die Raumzeit integriert ist, kann Letztere sich weder verändern, noch kann es darin zur Ausbreitung von Wellen kommen. Bei der zeitlosen Raumzeit-Interpretation (B-Theorie) sind die Wellen geometrische Verzerrungen, wogegen die Gravitationsstrahlen sich bei der zeitlichen Theorie der Zeit (A-Theorie) durch den Raum bewegen.

Die zeitlose, geometrische Interpretation wurde von Physikern wie Steven Weinberg als Hindernis bei der Integration der Schwerkraft mit den anderen Grundkräften der Natur kritisiert, weil Gravitation dann gerade nicht als Kraft, sondern als geometrische Größe behandelt wird. Vielleicht wird diese neue Entdeckung die Auffassung der Gravitation als einer sich durch den Raum ausbreitenden Kraft begünstigen und dadurch den Raumzeit-Realismus und die B-Theorie der Zeit unterminieren.

(Übers.: M. Köhler)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/gravitational-waves-detected

[1]

Zitiert in Tim Radfords Artikel „Gravitational waves: breakthrough discovery after two centuries of expectation“, erschienen in The Guardian in der Ausgabe vom 11. Februar 2016. https://www.theguardian.com/science/2016/feb/11/gravitational-waves-discovery-hailed-as-breakthrough-of-the-century

– William Lane Craig

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