#466 Existiert das Universum notwendig?
November 10, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
Im Leibniz'schen Kontingenz-Argument [https://www.youtube.com/watch?v=FPCzEP0oD7I] lautet Prämisse 2: "Wenn es eine Erklärung für die Existenz des Universums gibt, dann ist diese Erklärung Gott." Das bedeutet, dass das Universum nicht notwendig bzw. nicht aufgrund der Notwendigkeit seiner eigenen Natur existiert und dass alles, was möglicherweise außerhalb des Universums existiert, nicht die Ursache des Universums sein kann, außer Gott.
Weiterhin wird das Universum als die gesamte Raum-Zeit-Realität definiert, die alle Materie und Energie einschließt. Sie haben in einer früheren Q&A schon auf die Frage „Ist ein Teil des Universums ein notwendiges Wesen“ (Q&A #235) [1] geantwortet. Dabei haben Sie im Wesentlichen festgestellt, dass es absurd wäre, zu behaupten, dass eine bestimmte Menge von Elementarteilchen in allen möglichen Welten notwendig existieren und die Ursache aller anderen ähnlichen Partikel sein könnte.
Es ist sicherlich absurd zu behaupten, irgendwelche besonderen Teilchen könnten als eine universelle Ursache der gesamten physikalischen Realität wirken. Wie auch immer, Sie sind hier überhaupt nicht auf zwei weitere universelle Aspekte des Universums eingegangen. Kommen wir nun zum ersten Kandidaten:
(1) Könnte die fundamentale Struktur der Raum-Zeit-Realität aufgrund der Notwendigkeit ihrer eigenen Natur existieren? Das wäre ein Analogon zu den Quantenfeldern in einer umfassenden Weltformel oder "Theorie von Allem".
Diese Argumentationslinie klingt mir sehr nach Stephen Hawking (worum es ja in Q&A 180, "Stephen Hawking und Gott", [2] geht). Sie würden selbstverständlich mit dem kalām-kosmologischen Argument entgegenhalten, dass die Raum-Zeit einen Anfang in der Zeit hatte und daher kontingent sein muss. Wenn also das Raum-Zeit-Grundgefüge einen Anfang hatte, brauchen wir immer noch eine immaterielle, notwendig existierende Ursache außerhalb des physikalischen Raums und der Zeit.
Sie argumentieren dann, dass es nur zwei mögliche Entitäten gibt, die außerhalb von Raum und Zeit existieren: abstrakte Objekte und Gott. Überdies stehen abstrakte Objekte wie die Zahl Sieben in keinerlei Kausalbeziehungen. Die Zahl Sieben hat – abgesehen davon, dass Menschen über sie nachdenken – nie irgendein Ereignis im Universum verursacht. Daher scheint es, als könnten abstrakte Objekte unmöglich als intelligible Ursache der Raum-Zeit-Realität in Betracht kommen. Doch kommen wir nun zum zweiten Anwärter:
(2) Könnten die grundlegenden Naturgesetze aufgrund der Notwendigkeit ihrer eigenen Natur existieren? Und könnten sie die Ursache der Existenz des gesamten Raum-Zeit-Universums samt aller Materie und Energie sein?
Naturgesetze bestehen nicht aus einer Menge von zusammengesetzten Fundamentalteilchen, jedenfalls nicht auf die Weise, in der es Moleküle oder Galaxien tun, denn ein echtes grundlegendes Naturgesetz wäre immer und überall ein und dasselbe. Ein Platoniker wäre wahrscheinlich nur zu bereit zu sagen, dass derartige Gesetze zusammen mit den Regeln der Geometrie, Mathematik und Logik im platonischen Himmel existieren. Schließlich erscheint die Behauptung nicht absurd, dass ein solches Gesetz – selbst in Abwesenheit der von ihm betroffenen Teilchen – in jeder möglichen Welt bestehen könnte.
Was Naturgesetze von vielen anderen abstrakten Entitäten, wie Zahlen und Mengen, unterscheidet, ist, dass sie gewiss kausal wirken. Das erste Newtonsche Gesetz ist die Ursache dafür, dass ein Asteroid seine Trägheit bewahrt und im leeren Raum nicht langsamer wird. Ohne das Gesetz der Schwerkraft hätten die meisten Ereignisse in der Geschichte des Universums überhaupt nicht stattgefunden!
Es scheint also, als würden die Standardeinwände gegen physikalische Entitäten und abstrakte Objekte als Letztursache nicht auf die Gesetze der Natur zutreffen. Aber wäre nicht ein grundlegendes Naturgesetz eine gangbare Alternative zu Gott?
Vielen Dank für Ihre bemerkenswerte Arbeit und die Klarheit Ihres Denkens!
PS. Es war eine Freude, Sie nach der Debatte mit Kari Enqvist beim Mittagessen zu treffen.
Otto
Finland
Prof. Craigs Antwort
A
Ihre Überlegungen, Otto, helfen, die Diskussion voranzubringen, und sind deshalb nützlich.
1. „Könnte die fundamentale Struktur der Raum-Zeit-Realität aufgrund der Notwendigkeit ihrer eigenen Natur existieren?“ Ein Atheist könnte das natürlich sagen. Aber eine solche Hypothese ist meines Erachtens unwissenschaftlich und unplausibel. Die Raumzeit scheint hinsichtlich ihrer Eigenschaften kontingent zu sein; verschiedene Modelle des Universums weisen unterschiedliche Raumzeitstrukturen auf. So haben z.B. einige einen Anfang und andere nicht; einige dehnen sich immer weiter aus, andere kommen an ein Ende. Hawking gibt zu, dass sein Modell nur eine von vielen möglichen Raumzeiten darstellt. Deshalb ist unsere Raumzeit plausiblerweise kein notwendiges Wesen.
2. „Könnten die grundlegenden Naturgesetze aufgrund der Notwendigkeit ihrer eigenen Natur existieren?“ Ja, wenn Sie Platoniker sind! Denn solche Gesetze sind mathematische Gleichungen, also Musterbeispiele für abstrakte Objekte, deren Existenz von Platonikern als notwendig betrachtet wird. Die Frage an Platoniker ist nicht, warum solche Objekte existieren, sondern warum sie wahr sind. (Vgl. dazu Hawkings Bemerkung: „Wer bläst den Gleichungen den Odem ein und erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben können?“ [3]) Dem Platonismus zufolge existieren sogar falsche Naturgesetze notwendigerweise als mathematische Objekte. Nur in ihrem Wahrheitswert weichen sie von den tatsächlichen Gesetzen ab (also denen, die die wirkliche Welt beschreiben), indem die tatsächlichen Gesetze wahr und die anderen Gesetze falsch sind.
Die Sache ist aber die: Als mathematische Objekte sind Naturgesetze kausal wirkungslos. Sie besitzen keinerlei Kausalkräfte und können daher nichts verursachen. Die Vorstellung, dass die Naturgesetze Dinge bewirken, ist ein – selbst unter Berufswissenschaftlern – weitverbreiteter Irrtum. Diese scheinen vergessen zu haben, dass Gesetze bloß mathematische Objekte sind, die entweder wahr oder falsch sein können, je nachdem, ob sie die tatsächliche Welt beschreiben oder nicht. Sie bestimmen aber nicht, welche Welt wirklich ist. Im Gegenteil, rein explanatorisch geht die Frage, welche Welt wirklich ist, der Frage, welche Gesetze wahr oder falsch sind, voraus.
Sie sagen: „Ohne das Gesetz der Schwerkraft hätten die meisten Ereignisse in der Geschichte des Universums überhaupt nicht stattgefunden!“ Richtig! Wenn das Gesetz nicht wahr wäre, wäre die Geschichte des Universums anders verlaufen. Das ist ein wahres kontrafaktisches Konditional, bedeutet aber keine explanatorische Priorität. Newtons Gesetz bewirkt nicht, dass die Welt ist, wie sie ist; es hat nie in einer Kausalbeziehung zu irgendeinem Asteroiden gestanden!
Folglich sind die Gesetze der Natur als abstrakte Objekte zwar gute Kandidaten für notwendig existierende Entitäten, können aber nicht erklären, warum das kontingente Universum existiert.
(Übers.: M. Köhler)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/is-the-universe-a-necessary-being
[1]
Vgl. http://www.reasonablefaith.org/is-part-of-the-universe-a-necessary-being, deutsche Übersetzung vgl. http://www.reasonablefaith.org/german/qa235 (Anm. d. Übers.)
[2]
Deutsche Übersetzung: "Stephen Hawking und Gott – Anmerkungen zu Der große Entwurf"", http://www.reasonablefaith.org/german/qa180
[3]
Das Zitat von Stephen Hawking im Zusammenhang: "Auch wenn nur eine einheitliche Theorie möglich ist, so wäre sie doch nur ein System von Regeln und Gleichungen. Wer bläst den Gleichungen den Odem ein und erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben können? Die übliche Methode, nach der die Wissenschaft sich ein mathematisches Modell konstruiert, kann die Frage, warum es ein Universum geben muß, welches das Modell beschreibt, nicht beantworten. Warum muß sich das Universum all dem Ungemach der Existenz unterziehen?" (Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Die Suche nach der Urkraft des Universums, Rowohlt 1988, Kap. 12).
Original: "Even if there is only one possible unified theory, it is just a set of rules and equations. What is it that breathes fire into the equations and makes a universe for them to describe? The usual approach of science of constructing a mathematical model cannot answer the questions of why there should be a universe for the model to describe. Why does the universe go to all the bother of existing?". Stephen Hawking, A Brief History of Time: From the Big Bang to Black Holes, (New York 1988), S. 174.
(Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig