#481 Das sinnlose Übel und die Beweislast
January 10, 2017
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
ich bin dabei, Ihre neuesten Defenders-Vorträge über das Problem des Übels zu transkribieren, und hatte gehofft, dass irgendjemand diese Frage stellen würde, aber das war wohl nichts. Vielleicht können Sie die Frage in der nächsten Woche beantworten? Hier ist sie.
Man hört oft das Argument, dass es Übel gibt, die vollkommen sinnlos zu sein scheinen, dass diese sich aber im Nachhinein als sinnvoll entpuppen. (Oder, anders ausgedrückt: Wir wissen nicht, welches Gut aus etwas Üblem kommen kann – und wenn es Jahrhunderte später am anderen Ende der Erde ist.) Warum argumentieren wir stattdessen nicht einfach so: Jawohl, es gibt Übel, die sinnlos sind, das lässt sich einfach nicht leugnen – aber das ist doch kein Argument gegen die Existenz Gottes!
Haben Sie gelesen, was Kirk MacGregor über das Problem des Übels schreibt, und was halten Sie davon? Ich meine den folgenden Artikel: Kirk R. MacGregor, „The Existence and Irrelevance of Gratuitous Evil”, Philosophia Christi, vol. 14, No. 1 (2012). Im Internet unter: http://www.kirkmacgregor.org/uploads/pc_14-1_macgregor.pdf
MacGregor lehnt den Gedanken ab, dass es kein sinnloses Übel gibt: „Weder aus der logischen Unbeweisbarkeit noch aus der statistischen Unerforschlichkeit des sinnlosen Übels folgt, dass es sinnloses Übel nicht gibt.“ Der Glaube an die Existenz von sinnlos üblen Dingen ist für ihn (unter anderem) berechtigterweise basal; warum also so tun, als gäbe es sie nicht? Sich der Tatsache zu stellen, dass es sinnloses Übel gibt, scheint MacGregor „apologetisch gesehen ein viel besserer Weg für den christlichen Theisten zu sein; es befreit ihn von der ungeheuren Last, beweisen zu müssen, dass nichts von dem Übel in der Welt sinnlos ist, … und seine Zuhörer von der Zumutung, ihre kognitive Erkenntnis, dass es sinnloses Übel gibt, an der Garderobe abzugeben.“
MacGregors Position ist, dass dann, wenn Gott existiert und ein Universum erschaffen hat, es auch sinnloses Übel gibt (in der zweiten Hälfte seines Artikels begründet er dies mit mehreren Argumenten), ja, dass es sogar notwendigerweise existiert: „Alle solchen üblen Dinge sind ihrem Wesen nach sinn- und zwecklos; ihr einziger Daseinsgrund ist die logisch unvermeidliche Deprivation ontologischer Notwendigkeit bei erschaffenen Entitäten.“ (Ich schätze, dass er hier „natürliche“ üble Phänomene wie Erdbeben, Tsunamis etc. meint. Später wendet er sich dem moralischen Übel und dem Problem des freien Willens zu.)
Das ist also meine Frage. Warum sollen wir uns damit herumplagen, zu beweisen zu versuchen, dass es kein sinnloses Übel gibt? Warum sagen wir stattdessen nicht einfach, dass es existiert, und zeigen dann, dass dies nicht unvereinbar mit der Existenz Gottes ist? (Oder gehen sogar noch, wie MacGregor, einen Schritt weiter, und zeigen auf, dass es „dann, wenn es Gott gibt, auch sinnloses Übel gibt“.)
John
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Sie beziehen sich auf Teil 33 unseres Exkurses über natürliche Theologie, wo ich die sogenannte evidentielle oder probabilistische Version des Problems des Übels behandele. Ich habe MacGregors Artikel nicht gelesen, finde es aber erstaunlich, dass ein Molinist glaubt, dass es Übel gibt, die sinnlos sind. Ich habe Peter van Inwagens Verteidigung der Realität des sinnlosen Übels gelesen, doch er verneint, dass es scientia media („mittleres Wissen“) gibt. Ich bin nicht prinzipiell gegen diese Position, gehe aber bewusst nicht diesen Weg, da er dem Atheisten zu viel zugesteht – nämlich dass es Übel gibt, das sinnlos ist.
Der entscheidende Punkt beim probabilistischen Problem des Übels ist, dass der Atheist aus der Aussage „Vieles von dem Übel in der Welt scheint sinnlos zu sein“ den Schluss zieht: „Vieles von dem Übel in der Welt ist tatsächlich sinnlos.“ Angesichts der kognitiven Begrenzungen, denen wir Menschen unterliegen und die ich in meinem Vortrag beschreibe, bin ich äußerst skeptisch, dass der Atheist diesen Schluss begründen kann. Ich habe klargestellt, dass ich mit meiner Position mitnichten dem Theisten „die ungeheure Last“ aufbürde, „beweisen zu müssen, dass nichts von dem Übel in der Welt sinnlos ist“. Die Beweislast, zu zeigen, dass manche Übel tatsächlich sinnlos sind, weil sie scheinbar sinnlos sind, liegt ganz beim Atheisten. Wie ich einem Fragesteller erklärte: Die Last, „beweisen zu müssen, dass sinnloses Übel NICHT existiert“, gibt es nicht. Der Theist muss hier gar nichts beweisen, weswegen man diese Position oft auch „skeptischer Theismus“ nennt.
Nach der Lektüre von Stephen Wykstras Artikel in einem demnächst erscheinenden Buch über das Problem des Übels, in welchem ich selber eine molinistische Perspektive verteidige, habe ich jedoch erkannt, dass wir nicht, wie ich selber dies getan habe, argumentieren sollten, dass manche üblen Dinge sinnlos zu sein scheinen, es aber eigentlich nicht sind. Der Grund dafür ist, dass auch diese Position dem Atheisten zu sehr entgegenkommt! Es ist nämlich entgegen meiner bisherigen Eingeständnisse eigentlich nicht wahr, dass manche üblen Dinge sinnlos zu sein scheinen.
Wykstras Argumentation sieht auf den ersten Blick fantastisch aus. Aber er differenziert sorgfältig zwischen folgenden beiden Dingen: (1) Ich sehe nicht, dass das Übel einen Sinn hat. (2) Ich sehe, dass das Übel keinen Sinn hat. Der Gültigkeitsbereich der Negation ist entscheidend. [1]
Wykstra gibt folgende Beispiel: Sie gehen zu Ihrem Arzt, um sich impfen zu lassen, und die Assistentin lässt die Spritze auf den Boden fallen. Sie hebt sie wieder auf, schaut sie sich an und sagt: „Sieht so aus, als ob die Nadel keine Bakterien abgekriegt hat. Ziehen Sie bitte Ihren Ärmel hoch.“ Würden Sie das machen? Sicher nicht, denn es mag zwar nicht so aussehen, als ob Bakterien an der Nadel sind, aber Sie würden daraus nicht folgern, dass tatsächlich keine daran sind.
So ähnlich ist es bei manchen üblen Dingen in der Welt; es sieht nicht so aus, dass sie einen Grund haben, aber angesichts unserer kognitiven Grenzen ist es falsch, den Schluss zu ziehen, dass es so aussieht, dass sie keinen Grund haben.
Somit ist der Atheist hier in einer noch schwierigeren Lage, als ich zunächst dachte. Nicht nur kann er aus der Tatsache, dass manche üblen Dinge sinnlos zu sein scheinen, nicht folgern, dass sie tatsächlich sinnlos sind (mein Argument), sondern schlimmer noch: Er kann noch nicht einmal zeigen, dass sie sinnlos zu sein scheinen (Wykstras Argument).
Noch einmal: Lassen Sie sich nicht vom Atheisten die Beweislast aufhalsen!
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/gratuitous-evil-and-the-burden-of-proof
[1]
Nehmen wir z.B. die Frage, ob es Leben auf anderen Planeten gibt. Es ist wahr, dass „es nicht so aussieht, als ob es Leben auf anderen Planeten gibt“, aber es ist falsch, dass „es so aussieht, als ob es auf anderen Planeten kein Leben gibt“. Wenn die Negation einen großen Gültigkeitsbereich hat (also: „NICHT (es sieht so aus, als ob es Leben auf anderen Planeten gibt)“), ist der Satz wahr, doch wenn sie einen kleinen Gültigkeitsbereich hat („Es sieht NICHT so aus (als ob es Leben auf anderen Planeten gibt)“), ist er falsch.
– William Lane Craig