#484 Ist Gnade eine wesentliche Eigenschaft Gottes?
January 10, 2017
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
vor kurzem habe ich den Q&A-Artikel „Love and Justice in the Trinity“ gelesen. Dort schreiben Sie unter anderem: „Mein Argument ist, dass es nicht ausreicht, sich Liebe als eine bloß dispositionale Eigenschaft vorzustellen, also als die Neigung, zu lieben, sofern es eine andere Person außer mir gäbe. Liebevoll sein ist mehr als die Neigung, sich jemandem hinzugeben, so es diesen Jemand gäbe, sondern Lieben beinhaltet, dass ich mich tatsächlich dem anderen hingebe. Es kann also nicht sein, dass die Neigung, zu lieben, lediglich latent in Gott vorhanden ist, ohne je realisiert zu werden.“
Wenn Lieben also einen Empfänger dieser Liebe erfordert, muss man dann nicht in Bezug auf die Gnade Gottes argumentieren, dass Gott, wenn er gnädig ist, auch einen Empfänger dieser Gnade benötigt? Wie antworten Sie darauf, Prof. Craig?
Ihr Bruder in Christus,
mit herzlichem Gruß
Vlad
Montenegro
Prof. Craigs Antwort
A
Ich glaube, dies ist die erste Frage, die ich aus Montenegro erhalte, Vlad! Danke für Ihr Schreiben!
Ihre Frage hat Bezüge zu meiner aktuellen Forschung über die Erlösung durch Jesus Christus. Im 16. Jahrhundert versuchte der unitarische Theologe Faustus Socinus, die Erlösungslehre der Reformatoren durch das Argument zu widerlegen, dass die vergeltende Gerechtigkeit nicht eine wesentliche Eigenschaft Gottes sei und seine Gnade auch nicht. Wesentlich für Gott sei vielmehr seine Rechtschaffenheit (rectitudo) bzw. Unparteilichkeit (aequitas), und ob er Sünde bestrafe, liege in seinem freien Willen. Ähnlich sei die Gnade (misericordia) lediglich in dem Sinne eine wesentliche Eigenschaft Gottes, dass Gott liebt – aber ob Gott dem Sünder vergibt, liege wieder in seinem freien Willen.
In gewisser Weise hat Socinus recht, und die Reformatoren hätten ihm hier nicht widersprochen. Vergeltende Gerechtigkeit und Gnade können keine wesentlichen Eigenschaften Gottes sein, weil sie beide die Existenz von Personen voraussetzen, die des Bestraftwerdens bzw. der Vergebung fähig sind – also von Personen, die erschaffen sind, und die „orthodoxe“ Theologie hat immer die Meinung vertreten, dass die Schöpfung ein kontingenter, freier Willensakt Gottes ist, sodass die Geschöpfe lediglich kontingent existieren. Es gibt also mögliche Welten, in denen Gott weder bestraft noch Gnade übt, in denen er aber trotzdem gerecht und liebend ist.
Aber Socinus scheint mir über das Ziel hinauszuschießen, wenn er weiter annimmt, dass, weil die vergeltende Gerechtigkeit keine wesentliche Eigenschaft Gottes ist, sie somit nur das Produkt seines freien Willens ist. Warum kann man stattdessen nicht sagen, dass Gottes Rechtschaffenheit und Unparteilichkeit dann, wenn Geschöpfe existieren und diese Geschöpfe sündigen, die vergeltende Gerechtigkeit nach sich ziehen?
Auf Ihre Frage „Wenn Lieben also einen Empfänger dieser Liebe erfordert, muss man dann nicht in Bezug auf die Gnade Gottes argumentieren, dass Gott, wenn er gnädig ist, auch einen Empfänger dieser Gnade benötigt?“ würde ich also antworten: Während die Liebe eine wesentliche Eigenschaft Gottes ist, ist die Gnade eine kontingente Eigenschaft; sie ist die Art, wie Gottes Liebe sich gegenüber in Sünde gefallenen Geschöpfen äußert, wo solche Geschöpfe existieren. Wo es solche Geschöpfe nicht gibt, ist Gott liebend, aber nicht gnädig.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/is-mercy-an-essential-property-of-god
– William Lane Craig