#488 Was hat explanatorischen Vorrang: Besänftigung oder Sühnung?
January 20, 2017
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
ich sehe mir regelmäßig die Videos Ihrer Serie „Join Me in My Study“ über die biblische Versöhnungslehre an. Im zweiten und dritten Video unterscheiden Sie zwischen zwei Funktionen der levitischen Opfer: Besänftigung [1] und Sühnung [2]. Hier wittere ich ein konzeptuelles Problem und würde gerne Ihre Meinung dazu hören. Ich habe den Eindruck, dass die Sühnung die Besänftigung überflüssig macht. Wenn Sühnung bedeutet, dass Israels Sünden ausgelöscht werden, wozu braucht es dann noch die Besänftigung? Gottes Zorn wird von den Sünden der Menschen doch nicht mehr entfacht, wenn die Sünden weggenommen sind.
Ein ähnliches Problem sehe ich in der umgekehrten Richtung: Wenn Besänftigung stattgefunden hat, wozu braucht es dann noch Sühnung? Gottes Zorn ist doch durch die Versöhnungsopfer besänftigt worden, trotz der noch bestehenden Sünden des Volkes.
Danke, Dr. Craig.
Hayden
P.S. Wie wäre es mit einer Video-Führung durch Ihr Arbeitszimmer? Bestimmt gibt es außer mir noch mehr angehende Wissenschaftler, die sich gerne einmal ansehen würden, wie sich ein so effizient arbeitender Wissenschaftler organisiert.
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Danke, Hayden, für diese Chance, Werbung für unsere neue Facebook-Serie „Join Me in My Study“ zu machen. Jemand hatte gemeint, dass ein kurzes wöchentliches Video darüber, mit was ich mich gerade beschäftige, gut ankommen würde, und ich mache diese spontanen Video-Clips gerne.
Ihre Frage beschäftigt auch mich, insbesondere in Bezug auf den Sühnetod Christi. Ja, evangelikale Theologen scheinen unterschiedliche Ansichten zu dieser Frage zu haben; die einen sagen, dass unsere Sünde gesühnt ist, weil Gott besänftigt ist, und die anderen, dass Gott besänftigt ist, weil unsere Sünde gesühnt ist!
Meine erste Tendenz war, diese beiden Aspekte der Versöhnung als zwei Seiten derselben Medaille zu betrachten und nicht so, dass der eine explanatorischen Vorrang vor dem anderen hat. Ich sehe hier keine konzeptuelle Problematik. Explanatorisch kommt hier nicht einer dieser Aspekte „zuerst“, es gibt keine Hierarchie. Christi Sühnetod sühnt unsere Sünden und besänftigt Gott, und dies sozusagen „gleichzeitig“.
Doch in der letzten Zeit finde ich, dass dann, wenn wir die Besänftigung so verstehen, wie dies in der Theologie üblich ist – also nicht als Abwendung des Zornes Gottes, sondern als Zufriedenstellung seiner Gerechtigkeit –, die Besänftigung vor der Sühnung kommt. Denn fragen Sie sich einmal: Was ist es denn, was meine Schuld annulliert? Warum bin ich vor Gott nicht mehr schuldig? Wegen der Bestrafung! So wie ein Verbrecher, der von einem Gericht für schuldig befunden und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, nach Verbüßung der zehn Jahre nicht mehr als schuldig gilt, weil er ja für seine Tat bestraft worden ist, so hat Christus durch seinen Tod am Kreuz die Strafe abgebüßt, die ich für meine Sünden verdient hatte. Weil die Strafe abgebüßt ist, ist der Gerechtigkeit Genüge getan und ich bin nicht mehr schuldig. Meine Schuld vor Gott ist durch die Strafe gesühnt worden. Und so kommt die die Besänftigung explanatorisch vor der Sühnung.
Die Sühnung kann explanatorisch nicht vor der Zufriedenstellung der Gerechtigkeit Gottes kommen, weil außer der Strafe nichts geschehen ist, was meine Sünde auslöschen würde. Man könnte – wieder nach dem Vorbild der menschlichen Strafjustiz – sagen, dass Gott mich begnadigt und mir meine Schuld „einfach so“ vergeben hat – aber dann braucht es den Sühnetod Christi nicht mehr, und die christliche Sühnelehre fällt in sich zusammen. Die Sühnung kann auch explanatorisch nicht auf einer Stufe mit der Besänftigung stehen, denn durch die Strafe wird der göttlichen Gerechtigkeit Genüge getan und und folglich meine Schuld ausgelöscht.
Ich neige also dazu, denjenigen Theologen zuzustimmen, die sagen, dass die Besänftigung (die Zufriedenstellung der Gerechtigkeit Gottes) den explanatorischen Vorrang vor der Sühnung (der Beseitigung der Schuld) hat.
Ach ja, mein Arbeitszimmer: Nein, so bald werde ich keine Video-Führungen anbieten, denn da gibt’s nicht viel zu sehen. Aber wer als Erster richtig rät, was die vielen grünen Bände auf dem Bücherregal hinter mir sind, bekommt einen Preis. Gehen Sie einfach auf: https://www.facebook.com/reasonablefaithorg/.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/which-is-explanatorily-prior-propitiation-or-expiation
[1]
En. „propitiation“ – Anm. d. Übers.
[2]
En. „expiation“ – Anm. d. Übers.
– William Lane Craig