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#489 Hat Jesus das alles wirklich gesagt?

#489 Hat Jesus das alles wirklich gesagt?

January 20, 2017

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich habe so eine englische Bibel, in der die Worte Jesu rot gedruckt sind. Woher können wir wissen, dass das, was Jesus im Text der Evangelien sagt, das ist, was er tatsächlich gesagt und gelehrt hat?

Lane

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Was wir wissen, Lane, ist, dass Jesus das, was in Ihrer Ausgabe der Evangelien rot gedruckt ist, nie wörtlich gesagt haben kann! Diese Ausgaben mit dem roten Druck sind nämlich englische Bibelausgaben, und Jesus hat definitiv nicht Englisch gesprochen.

Aber Scherz beiseite: Die Evangelien wurden auf Griechisch niedergeschrieben, aber Jesus hat auf Aramäisch gelehrt. Selbst eine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, in der die Jesusworte rot gedruckt sind, würde uns also nicht den Wortlaut dessen geben, was Jesus gesagt hat.

Jesus hat sehr wahrscheinlich auch (jedenfalls soweit das für seinen Beruf als Zimmermann nötig war) das Griechische beherrscht, denn Griechisch war, aufgrund der Eroberungen Alexanders des Großen, eine der Verkehrssprachen im Römischen Reich. Die Römer sprachen eigentlich Latein, aber im Heiligen Land benutzten sie sehr wahrscheinlich das Griechische, was die erstaunte Frage des Centurio, der Paulus verhaftet hatte, erklärt: „Du sprichst Griechisch?“ (Apostelgeschichte 21,37).

Aber wenn er zu seinen jüdischen Landsleuten sprach, benutzte Jesus natürlich das Aramäische. Was wir in den Evangelien haben, ist also die griechische Übersetzung der Worte Jesu. Nur hier und da sind ein paar Originalworte auf Aramäisch eingestreut, so bei der Kreuzigung Jesu: „Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama sabachthani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Markus 15,34).

Wir müssen weiter bedenken, dass in einer Kultur, die keine Anführungszeichen kannte, der Übergang zwischen direkter und indirekter Rede fließend sein konnte. Lesen Sie einmal den Bericht über Jesu Gespräch mit Nikodemus in Johannes 3, lassen Sie die Anführungszeichen weg und fragen sich dann, wo Johannes‘ Zitat der Worte Jesu aufhört und sein Kommentar beginnt. Oder lesen Sie den Bericht über Paulus‘ Konflikt mit Petrus in Galater 2 und fragen sich, wo Paulus seine eigenen Worte damals wiedergibt und wo er das Geschehnis aus dem Rückblick kommentiert. Die Grenze ist nicht klar. In einer Kultur, wo die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Rede nicht immer klar war, war es vollkommen in Ordnung, wenn man jemanden nicht wörtlich zitierte, sondern das, was er gesagt hatte, mit eigenen Worten zusammenfasste.

Die Verfasser der Evangelien haben bei der Darstellung der Lehren Jesu die damals üblichen rhetorischen Techniken benutzt, also Paraphrase, Zusammenfassung, Konzentrierung, Präzisierung, Kontextualisierung usw.

Es ist also sehr irreführend, die Worte Jesu in einer anderen Farbe zu drucken, gerade so, als handele es sich um ein stenografisches Protokoll seiner Reden.

Worauf es eigentlich ankommt, ist, dass wir zeigen können, dass die Evangelisten das, was Jesus von Nazareth sagte und lehrte, korrekt wiedergegeben haben. Hier kann die historisch-kritische Methode hilfreich sein. Ihre Vertreter sagen uns z. B., dass wir bei einer bestimmten, Jesus zugeschriebenen Aussage seine eigene Stimme (lat. ipsissima vox) hören, d.h. eine griechische Formulierung, die dem, was Jesus wörtlich gesagt hat, sehr nahekommt. Ein gutes Beispiel ist seine Lehre über das Reich Gottes. Die Theologen sind sich einig, dass die Verkündigung des Reiches Gottes im Zentrum der Lehre Jesu stand. In anderen Fällen gehen die Bibelforscher sogar davon aus, dass wir die eigenen Worte (ipsissima verba) Jesu vor uns haben, d.h. eine griechische Formulierung, die das, was Jesus gesagt hat, praktisch wortwörtlich wiedergibt. Ein gutes Beispiel ist seine Selbstbezeichnung als „der Menschensohn“. Solche Beispiele könnte man noch am ehesten rot drucken, aber damit würde man den Text der Evangelien künstlich verunstalten.

Vor einigen Jahren machte eine Gruppe radikaler Textkritiker, die sich „Jesus Seminar“ nannte, Schlagzeilen in der Fachwelt; diese Forscher benutzten die Farbe Rot für Bibelstellen, die sie für authentische Jesusworte hielten, Rosa für Passagen, die ihnen nach Jesus klangen, Grau für Stellen, die ihnen zweifelhaft erschienen, und Schwarz für Passagen, die sie eindeutig für nicht authentisch hielten. In ihrer Evangelienausgabe waren weniger als 20% der Jesus zugeschriebenen Worte rot – ein klares Indiz ihres Skeptizismus.

Eine kritische Darstellung der Methodik des Jesus Seminars finden Sie unter: http://www.reasonablefaith.org/german/Denkvoraussetzungen-und-Anmassungen-des-Jesus-Seminars. Der gegenwärtige Stand der Forschung ist, dass unter den Theologen für die Stützung des Selbstverständnisses Jesu als Sohn Gottes nur solche Aussagen von ihm infrage kommen, die allgemein als authentisch betrachtet werden, wie ich in dem Kapitel über das Selbstverständnis Jesu in meinem Buch Reasonable Faith gezeigt habe.

Wer die Evangelien studieren möchte, sollte von Bibelausgaben, in denen Jesu Worte in einer besonderen Farbe gedruckt sind, die Finger lassen, da solche Manipulationen das Wesen der Evangelienberichte nur verfälschen.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/red-letter-gospels

– William Lane Craig

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