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#522 Sind schwierige Texte im Alten Testament ein Hinderungsgrund dafür, Christ zu werden?

#522 Sind schwierige Texte im Alten Testament ein Hinderungsgrund dafür, Christ zu werden?

February 02, 2019

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich bin ein großer Bewunderer von Ihnen, auch wenn ich persönlich ein nicht-religiöser Theist bin. Ich habe es nie geschafft, den Atheismus ernst zu nehmen, und bin, rein aus philosophischen Gründen, davon überzeugt, dass die atheistische Weltsicht logisch absurd ist. Aber ich habe es auch nie geschafft, irgendeine der vorhandenen Religionen zu unterschreiben – aus einer Reihe verschiedener Gründe, je nachdem, um welche Religion es sich handelt. Da Sie Christ sind, möchte ich hier nur den Hauptgrund dafür nennen, warum ich das Christentum nicht akzeptieren kann – ein Grund, den mir bisher noch niemand zufriedenstellend hat ausräumen können. Ich schätze mal, wenn ich hier auch von Prof. Dr. William Lane Craig keine überzeugende Antwort bekomme, dann gibt es, jedenfalls zurzeit, so eine Antwort nicht.

Die Wurzel meines Problems mit dem Christentum, ja mit allen abrahamitischen Religionen, liegt in diversen Texten des Alten Testaments, vor allem aber im Buch Genesis (1. Mose). Ich habe mir alle 21 Folgen Ihrer Defenders-Serie über die Lehre von der Schöpfung angehört. Wenn ich das Buch Genesis durchlese (und das habe ich schon viele Male gemacht) und mir die verschiedenen Auslegungen dazu anschaue, finde ich es sehr schwierig, dieses Buch nicht wörtlich zu verstehen. Die ersten beiden Kapitel mit dem Schöpfungsbericht (erst die Erschaffung der ganzen Welt, dann die der Menschen) scheinen ja noch Spielräume für eine nicht wörtliche Deutung zu bieten, aber selbst wenn das so wäre, blieben immer noch die ganz verrückte Geschichte mit der Arche Noah und der Sintflut, die immense Lebenserwartung der ersten Menschen, die aus irgendeinem Grunde mit jeder Generation weniger wurde, nicht zu vergessen die Berichte über Riesen und über Frauen, die es mit bösen Geistern trieben (1. Mose 6,4), und noch viele andere Dinge, die Sie ohne Zweifel kennen. Diese Berichte sind sprachlich eindeutig, und ich sehe nicht, wie man sie rein bildlich verstehen soll.

Ich weiß, ich könnte hier sagen: „Lassen wir das mit der Unfehlbarkeit der Bibel.“ Das schlagen Sie ja denen, die, wie ich, auf dieses Hindernis zum Glauben an Christus gestoßen sind, gewöhnlich vor. Aber wenn ich sage, dass das ganze Buch Genesis (oder jedenfalls ein beträchtlicher Teil davon) nicht wahr ist, dann habe ich das Problem, dass Jesus Christus – die Gottheit, der ich als Christ folgen würde – an mehr als einer Stelle diese Irrtümer als Wahrheiten bezeichnet hat (Lukas 17,26; Markus 10,6-9; Matthäus 19,4-5). Und damit nicht genug, sondern Paulus macht ja in seinen Briefen oft das Gleiche. Die einzige Lösung scheint mir hier darin zu bestehen, dass man sagt, dass Christus diese Wahrheiten in einem bloß „bildlichen Sinne“ zitierte, aber das will mich nicht recht überzeugen – in erster Linie deswegen, weil die vernünftigste Deutung der Worte Jesu die ist, dass er tatsächlich glaubte, dass diese Geschichten buchstäblich wahr waren. Und wenn man sagt, dass die Verfasser der Evangelien Jesus an diesen Stellen halt falsch wiedergegeben haben, muss man sich natürlich fragen, was für Fehler sie noch gemacht haben, womit man letztlich die ganze Bibel infrage stellen würde.

Sie würden hier wahrscheinlich antworten, dass nichts von dem, was ich gerade gesagt habe, etwas an Ihrer Argumentation, dass die Auferstehung Jesu historisch stattgefunden hat, ändert. Das stimmt sicher, aber es bedeutet auch, dass ich mit dieser einen Beweisführung dastehe, die ein Ereignis betrifft, das vor 2.000 Jahren geschehen sein soll, und dass ich auf diesem einen Pfeiler die ganze rationale Begründung meines Christenglaubens aufbauen soll. Das ist ein bisschen viel für ein einziges Argument. Und selbst wenn ich also glauben würde, dass Jesus von den Toten auferstand – woher will ich wissen, was Gott genau von mir will, wenn seine Wahrheitsquelle so getrübt ist und man ihr nicht trauen kann? Und damit komme ich zu den beiden Fragen, die ich an Sie habe:

Wenn ich nicht glaube, dass die Bibel unfehlbar ist, was habe ich dann noch als Christ von ihr? Genauer: Was für eine erkenntnistheoretische Basis bleibt mir dann, anhand derer ich feststellen kann, ob gewisse Aspekte meines potentiellen christlichen Glaubens wahr sind oder nicht? Bleibt mir womöglich nur die Stimme des Gewissens? Aber damit wäre ich im Wesentlichen genauso schlau, wie ich es jetzt schon bin.

Wie stehen Sie zu den anderen Berichten im Buch Genesis (also nicht der Schöpfungsbericht, sondern der Rest)? Wie halten Sie es insbesondere mit Noah und der Sintflut, über die Sie sich meines Wissens noch nie direkt geäußert haben?

Es wäre so schön, wenn Sie mir aus dieser Bredouille heraushelfen könnten, denn die Person Christi zieht mich sehr an, und ich würde nichts lieber tun, als glauben können, dass sie wahr ist. Viele meiner nicht religiösen Freunde und Bekannten stehen vor dem gleichen Problem mit dem Christentum, und nichts wäre mir lieber, als ihnen eine überzeugende Antwort liefern zu können.

Gott segne Sie!

Jon

Afghanistan

Prof. Craigs Antwort

A

Wenn ich gefragt werde, was für unbeantwortete Fragen ich habe, antworte ich: „Ich weiß nicht, was ich mit diesen alttestamentlichen Geschichten über Noah und die Arche, den Turmbau zu Babel usw. machen soll.“ Ich sitze hier also im selben Boot wie Sie, Jon. Ich kann Ihnen keine überzeugende Lösung dieser Probleme bieten. Aber diese ungelösten Probleme haben mich nicht daran gehindert, Christ zu werden und zu bleiben. Warum nicht?

Die Antwort liegt zum großen Teil darin, dass die Wahrheit dessen, was C.S. Lewis das „Christentum schlechthin“ oder auch „das bloße Christentum“[1] genannt hat, nicht mit solchen Fragen steht oder fällt. Das „Christentum schlechthin“ – das sind die zentralen Wahrheiten der christlichen Weltsicht. Wenn jemand glaubt, dass Gott existiert und dass er Jesus von den Toten auferweckt hat, dann sollte er sich als Christ verstehen. Denn durch die Auferweckung Jesu hat Gott ja die Lehren und Aussagen Jesu bestätigt, inklusive der Selbstaussagen Jesu, mit denen Jesus sich selbst Gott gleich gestellt hatte, und die damals als gotteslästerlich empfunden worden waren. Wenn Jesus von den Toten auferstanden ist, dann ist das Christentum also wahr; der Rest sind Details, über die die Christen sich am Stammtisch die Köpfe zerbrechen können. Die Fragen über die historische Zuverlässigkeit jener alten jüdischen Texte haben halt keinen direkten Bezug zu der Frage, ob Gott existiert oder ob Jesus von Nazareth von den Toten auferstand. Können Sie sich einen Historiker vorstellen, der die Historizität irgendeines Ereignisses in den Evangelien verneint, nur weil, sagen wir, die Geschichte vom Turmbau zu Babel ein Mythos ist?

Ich bin zudem davon überzeugt, dass wir echte solide Gründe für die Annahme haben, dass das „Christentum schlechthin“ wahr ist. Wenn ich mit anderen Philosophen über die Existenz Gottes diskutiere, muss ich manchmal denken: „Mann, das sind echt starke Argumente!“ Immer mehr Historiker akzeptieren die historische Glaubwürdigkeit der Evangelienberichte. Ich staune immer wieder, dass die zentralen Fakten, die die Annahme der Auferstehung Jesu stützen, heute von der großen Mehrheit der Experten bejaht werden. Und wie schockierend dürftig die Einwände sind, mit denen die Skeptiker argumentieren.

Ich sehe nicht das Problem, dass wir hier nur ein einziges Argument für etwas haben, das vor 2.000 Jahren geschah. Die zeitliche Lücke, auf die es ankommt, ist die zwischen dem Ereignis und dem Zeitpunkt, zu dem es dokumentiert wurde, und nicht die zwischen der Dokumentierung und heute. Eine gute Indizienlage wird nicht dadurch schlechter, dass Zeit vergeht! Solange das zeitliche Intervall zwischen den Ereignissen und ihrer Aufzeichnung kurz ist, ist es egal, wie alt die Ereignisse und ihre Aufzeichnung mittlerweile zurückliegen. Außerdem ist es irreführend, hier von nur einem Argument zu reden. Wir haben es mit historischen Urkunden über Leben und Lehre Jesu von Nazareth zu tun, die viel besser sind als die, die uns für viele andere große Figuren der Antike zur Verfügung stehen. Und wie Sie selber anmerken, ist Jesus von Nazareth in sich eine ungemein faszinierende Gestalt, die wir ernst nehmen und nicht einfach beiseite wischen sollten. Ich möchte hier sogar den Spieß umdrehen und feststellen, dass Sie alles auf die Karte eines einzigen Arguments setzen, nämlich der Erwähnung dieser alttestamentlichen Geschichten bei Jesus als Basis entweder für die Verneinung der historischen Glaubwürdigkeit der Evangelien oder für die Belegung der Auferstehung Jesu.

Das wichtigste dialektische Manöver, das Sie vornehmen, sind die christologischen Implikationen, die Sie aus der Verneinung der Historizität der problematischen alttestamentlichen Geschichten ziehen. Sie argumentieren: Da Jesus ganz offensichtlich an die Historizität dieser Geschichten glaubte, dann räumen wir, wenn wir diese Geschichten als nicht historisch betrachten, ein, dass Christus manchmal irrte. Aber was für christologische Implikationen hätte das?

Das ist eine echt gute Frage für die Theologen! Gab es im menschlichen Bewusstsein Jesu also falsche Vorstellungen? Glaubte auch er, dass die Sonne sich um die Erde dreht? Hielt er die Erde für den Mittelpunkt des Universums? Glaubte er, dass es noch mehr Sterne gibt als die, die wir am Nachthimmel sehen können? Ich werde nicht versuchen, diese Fragen zu beantworten, aber ich finde, es sind gute Fragen. Erniedrigte Gott sich, als er Mensch wurde, so sehr, dass er die kognitiven Begrenzungen der damaligen Menschheit übernahm, sodass Jesus die gleichen falschen Vorstellungen von gewissen Dingen hatte, die für einen Juden des 1. Jahrhunderts typisch waren? Da ich gute Gründe dafür habe, an die Göttlichkeit Jesu zu glauben (siehe oben), würde ich eher einräumen, dass Jesus falsche Vorstellungen haben konnte (die letztlich nicht wichtig sind), als seine Göttlichkeit zu verneinen. Wir sollten Jesus nicht unsere vorgefassten Meinungen darüber, was Göttlichkeit bedeutet, überstülpen, sondern bereit sein, uns von den Evangelien zeigen zu lassen, was die Inkarnation genau bedeutete.

Aber so weit sind wir hier noch gar nicht. Ich finde, dass die Texte, die Sie als Beleg dafür anführen, dass Jesus Dinge über das Alte Testament glaubte, die nicht stimmen, recht schwach sind. Markus 10,6-9 und Matthäus 19,4-5 sind Zitate aus dem Buch Genesis, bei denen es darum geht, wozu Gott Mann und Frau erschuf. Diese theologische Aussage zwingt einen nicht dazu, an die Historizität der entsprechenden Erzählung zu glauben. Bleibt bei Ihnen als einziges Beispiel, das ein gewisses Gewicht hat, Lukas 17,26-27, wo Jesus sagt: „Und wie es geschah in den Tagen Noahs, so wird’s auch sein in den Tagen des Menschensohns: Sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie ließen sich heiraten bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging und die Sintflut kam und brachte sie alle um.“[2] Aber dieses Zitat, wie auch Jesu Verweis auf Jona, kann man so sehen, dass jemand auf eine bekannte Geschichte hinweist, um das, was er sagen will, zu illustrieren. Ich könnte z.B. einem Freund sagen: „So wie Robinson Crusoe seinen Freitag hatte, um ihm zu helfen, so habe ich meine Frau Jan als Helferin“ – ohne dass ich mich damit darauf festlegen würde, dass es Robinson Crusoe gegeben hat!

Es scheint im Neuen Testament gleich mehrere Beispiele für dieses Phänomen zu geben. So wird in Judas 9 eine Szene aus der Himmelfahrt des Mose erwähnt, einem apokryphen Werk, das nie zum jüdischen biblischen Kanon gehörte. In 2. Timotheus 3,8 werden zwei Männer erwähnt, die in jüdischen Targumen, in den Schriftrollen von Qumran und in der rabbinischen Überlieferung vorkommen, die ebenfalls nie zum jüdischen Kanon gehörten. Solche Erwähnungen und Vergleiche bedeuten nicht automatisch, dass die Autoren die entsprechenden Personen oder Ereignisse für historisch halten. Möglicherweise finden wir etwas Ähnliches auch in Römer 5,7, wo Paulus sagt: „Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben.“ Der bekannte Neutestamentler Simon Gathercole hat darauf hingewiesen, dass Paulus hier das in der griechisch-römischen Antike geläufige Motiv, dass jemand sich anbietet, für einen anderen zu sterben, aufgreift. Das berühmteste Beispiel in der Antike war Alcestis in dem gleichnamigen Drama des Euripides, die anstelle ihres Ehemannes, König Admetus, in den Tod ging. Sie wurde dafür jahrhundertelang verehrt, und ihr Name findet sich sogar in christlichen Grabinschriften. Gathercole glaubt, dass Paulus in Römer 5,7 möglicherweise an Alcestis dachte, in dem Sinne von: „Alcestis war bereit, für ihren geliebten Gatten zu sterben, aber Christus starb für seine Feinde.“ Aber bedeutet dieser Vergleich, dass Paulus die rein literarische Figur der Alcestis für eine historische Gestalt hielt?

Wie können wir andererseits sicher sein, dass die Geschichten des Alten Testaments falsch sind? Vor ein paar Jahren stieß ich auf einen Artikel über zwei säkulare Geophysiker, die glauben, dass die Sintflut in der Bibel möglicherweise eine lokal begrenzte riesige Naturkatastrophe war, zu der es kam, als die Bosporus-Landenge, die ursprünglich geschlossen war, sich öffnete, sodass das Mittelmeer sich in das dahinter liegende Tiefland ergoss und das Schwarze Meer entstand! Ich bin der Sache nicht nachgegangen, weil, wie ich oben erklärt habe, ich nicht glaube, dass das so wichtig ist. Aber vielleicht ist damals wirklich so etwas Ähnliches passiert.

Ich glaube also nicht, dass die christologischen Konsequenzen so drastisch sind, wie Sie das befürchten.

Aber jetzt zu Ihren beiden konkreten Fragen:

Wenn ich nicht glaube, dass die Bibel unfehlbar ist, was habe ich dann noch als Christ von ihr? Genauer: Was für eine erkenntnistheoretische Basis bleibt mir dann, anhand derer ich feststellen kann, ob gewisse Aspekte meines potentiellen christlichen Glaubens wahr sind oder nicht?Antwort: Ich plädiere nicht dafür, dass Sie die Unfehlbarkeit der Bibel verneinen, aber wenn Sie dies täten, wäre die Bibel Ihnen immer noch als Wegweiser zu theologischen Wahrheiten nützlich. Galileo Galilei hat einmal weise gesagt, dass Gott uns die Schrift gegeben hat, um uns zu sagen, wie wir in den Himmel kommen, und nicht, wie die Himmel sich bewegen. Die großen Werke der Weltliteratur zeigen uns, dass Werke, die nicht historisch sind (wie die Dramen Shakespeares oder die Romane Dostojewskis oder Äsops Fabeln), uns trotzdem wichtige Wahrheiten zeigen können. Daraus, dass gewisse Texte im Alten Testament nicht historisch sind, würde mitnichten folgen, dass Gottes Wahrheitsquelle getrübt ist und man ihr nicht trauen kann. Wir wissen z.B., dass die Evangelien historisch glaubwürdige Quellen sind, egal wie man über die ersten Kapitel des Buches Genesis denkt. Benutzen Sie einfach solide Prinzipien der Bibelauslegung, folgen Sie den Fakten dorthin, wohin sie führen, und bleiben Sie dabei stets demütig.

Wie stehen Sie zu den anderen Berichten im Buch Genesis (also nicht der Schöpfungsbericht, sondern der Rest)?Antwort: Wie gesagt, ich weiß es nicht. Wie auch Sie, bin ich bei manchen Dingen perplex. Ich akzeptiere die Historizität zunächst mal als eine Art Ausgangsposition, aber ich bin lernfähig. Ich kann mit Ungewissheit leben, solange ich der Wahrheit der Kernaussagen des Christentums, also des „Christentums schlechthin“, gewiss bin.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/should-ot-difficulties-be-an-obstacle-to-christian-belief

[1] Der englische Titel des bekannten Buches von C.S. Lewis lautet "Mere Christianity" (etwa „Christentum schlechthin“), in welchem er die Hauptaussagen des Christentums verteidigt. Das Buch ist in deutscher Sprache zunächst unter dem Titel „Christentum schlechthin“ erschienen, später unter dem jetzt noch aktuellen Titel: "Pardon, ich bin Christ. Meine Gründe für den Glauben". (Anm. d. Übers.)

[2] Alle Bibelzitate nach Lutherübersetzung 2017 (Anm. d. Übers.).

– William Lane Craig

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