#549 Wie ist das mit der Erbsünde?
January 22, 2018
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
Salam! Ich bin Muslim. Ihre öffentliche und private Arbeit in der natürlichen Theologie hat, wie ich finde, eine Generation von Gläubigen vor Aberglauben und Irrtümern bewahrt. Ganz, ganz herzlichen Dank für Ihr aufopferungsvolles Wirken. Meine Frage betrifft die verwirrende Verbindung zwischen der Erbsünde und dem Opfer Christi.
Die Lehre von der Erbsünde und ihre Beziehung zum Opfer Christi sehen für den Nichtchristen wie ein Angriff auf die Freiheit des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes aus. Nehmen wir dazu noch die Annahme, dass Gott „sich herabließ“, um sich in Christus (dem Erlöser) für uns verlorene, sündige und gefallene Menschen zu opfern, und die Verwirrung steigert sich noch.
Gott hat uns also von Anfang an als „geborene Sünder“ erschaffen, und dann war er so nett und errettete die Menschen schließlich aus ihrer eigenen unausweichlichen Verderbtheit? Wo ist da der Sinn? Wenn ich ein Auto erst kaputt mache und anschließend repariere, habe ich dafür Lob verdient? Wo ist die Herrlichkeit in dieser kosmischen Geschichte von einem Gott, der zerstört, um zu reparieren? Gott ist gnädig, wo und wann er will, aber die ganze Menschheit erst kollektiv verdammen (Erbsünde) und ihr dann später zu Hilfe eilen – das ist nicht herrlich, sondern unlogisch. Durch die Brille der Erbsünde betrachtet, lässt die Erlösung durch Christus Gottes Heilsplan wie ein Sich-selber-auf-die-Schulter-Klopfen erscheinen.
Anmerkung 1: Sie mögen einwenden, dass nicht Gott unsere kollektive Verdammnis (den Sündenfall) verursachte, sondern Adam und Eva, durch ihren eigenen freien Willen, doch dies löst immer noch nicht das ethische Problem, dass ich wegen dem, was ein anderer verbrochen hat, verurteilt werde und für etwas schuldig gesprochen werde, das passiert ist, bevor ich geboren war (und anschließend für den Rest meines Daseins erlösungsbedürftig bin).
Anmerkung 2: Vielleicht ist mein Einwand nicht mehr ganz so stark, wenn man den Begriff der Erbsünde moderater versteht, z. B. als „menschliche Schwachheit“. Aber ich glaube, die meisten Christen unterschreiben die paulinisch-augustinische Lehre von der Erbsünde als totaler Verderbtheit.
Omar
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Danke für Ihre Frage, Omar. Es ist mir immer eine Freude, mich mit muslimischen Lesern auszutauschen!
Als Erstes möchte ich Sie auf meine „Defenders“-Vorträge (Serie 2) über die Lehre vom Menschen (Teil 10: Der Mensch als Sünder) hinweisen, wo ich die Lehre von der Erbsünde behandele. Wie dort von mir erklärt, wird die Lehre, dass Adams Sünde automatisch allen Menschen zugerechnet wird, keineswegs von allen Christen unterschrieben und ist somit nicht wesentlich für den christlichen Glauben. Ihre biblische Belegung ist zudem eher schwach, sodass ich persönlich hier keine feste Meinung habe. Kurz: Sie müssen diese Lehre nicht unterschreiben, um Christ zu werden; sie braucht also kein Hindernis für Sie zu sein.
Ihre erste Frage ist, wo der „Sinn“ dieser Lehre ist. Hier ist das Problem, Omar, dass Sie sie auf eine etwas unklare Art formulieren – daher der Anschein, dass sie keinen Sinn macht. Die Lehre von der Erbsünde besagt nicht, dass Gott „uns von Anfang an als ‚geborene Sünder‘ erschaffen“ hat. Der Mensch wurde vielmehr ursprünglich so erschaffen, dass er unschuldig war und Gemeinschaft mit Gott hatte. Aber dann entschloss er sich dazu, Gott nicht zu gehorchen, und fiel so in Sünde. Diese Sünde des ersten Menschen (Adam) wurde dann allen von Adam abstammenden Menschen angerechnet. Ihr Beispiel mit jemandem, der erst ein Auto kaputt macht, um es dann zu reparieren, ist also nicht korrekt, weil nicht Gott das Auto kaputt macht. Es war vielmehr so, dass Adam das brandneue „Auto“, das Gott ihm geschenkt hatte, ruinierte und dass wir diesen alten Unfallwagen erben und übernehmen, bis Gott ihn in seiner Gnade repariert (oder, besser ausgedrückt, uns ein nagelneues Fahrzeug gibt). Das Herrliche in dieser Geschichte besteht darin, dass wir vor einem heiligen Gott nichts als Verdammnis verdienen für das Böse, das wir getan haben, aber dass Gott in seiner Gnade uns durch Christus errettet, uns vergibt und wieder in die Gemeinschaft mit ihm aufnimmt.
Was soll an dieser Lehre, wenn man sie korrekt darstellt, „unlogisch“ sein? In Ihrer Anmerkung 1 kommen Sie zu dem Kern Ihres Einwands: dem „ethischen Problem, dass ich wegen dem, was ein anderer verbrochen hat, verurteilt werde“. Wie ich in meinen „Defenders“-Vorträgen über die Sühne, ist die Verurteilung einer Person für Vergehen einer anderen Person ein fester Bestandteil westlicher Justizsysteme. Sie nennt sich dort „Haftung für fremdes Verschulden“. So kann z. B. ein Arbeitgeber für Vergehen seines Angestellten (in dessen Rolle als Angestellter) haftbar gemacht und entsprechend bestraft werden. Man beachte, dass der Arbeitgeber in diesen Fällen nicht für eigene Vergehen geradestehen muss (wie Fahrlässigkeit oder Verletzung der Aufsichtspflicht über den Angestellten). Er selber kann völlig unschuldig sein, aber die Haftung oder Schuld des Angestellten wird ihm zugerechnet. Ihr Einwand ist also nicht spezifisch theologisch; das ganze westliche Justizsystem steht gegen ihn.
Wie können wir es verstehen, dass die Schuld Adams uns zugerechnet wird? Ich glaube, dass hier zwei Dinge ausreichen: 1. steht Adam als Urvater der Menschheit als unser Stellvertreter und Repräsentant vor Gott. Sein Vergehen war unser Vergehen, weil er uns vor Gott vertrat. – 2. Falls hier jetzt jemand einwendet, dass Adam ein schlechter Stellvertreter war, können wir antworten, dass Gott über seine scientia media (Mittleres Wissen) wusste, dass wir, wären wir an Adams Stelle gewesen, genauso gehandelt hätten wie dieser. Adam war also als unser Stellvertreter vor Gott genau der Richtige!
Also: Ist die Lehre von der Erbsünde wahr? Ich weiß es nicht! Aber ich glaube, sie lässt sich gegen die Art Einwand, die Sie bringen, verteidigen.
Und schließlich kann man, wie Sie selber in Ihrer Anmerkung 2 bemerken, die Idee der Übertragung der Sünde Adams auf seine Nachkommen dadurch vermeiden, dass man eine schwächere Lehre von der Erbsünde wählt, die diese Übertragung nicht hat. So sehen z. B. alle Ostkirchen (etwa die Griechisch- und Russisch-Orthodoxe Kirche und die Syrisch-Orthodoxen Kirchen) in der Erbsünde lediglich eine durch Adam in die Menschheit eingeführte Art Entstellung oder Verderbtheit, an der wir nicht schuld sind. Aber auch viele Protestanten verneinen die Übertragung der Sünde Adams auf die übrige Menschheit. Ihr Einwand braucht also kein Stolperstein für Sie zu sein, da es unter bibeltreuen Christen ganz unterschiedliche Ansichten zur Frage der Erbsünde gibt.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/original-sin
– William Lane Craig