#589 Moralisches Wissen und Gottes Existenz
April 14, 2019
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
zunächst einmal möchte ich Ihnen für Ihre Arbeit danken, die mein Leben verändert hat und entscheidenden Einfluss auf meine intellektuelle Entwicklung gehabt hat. Zwar finde ich ihr strikt ontologisches Argument der Moral überzeugend (was die Existenz von objektiven moralischen Werten und Pflichten angeht), doch frage ich mich, warum Sie das Argument nicht auch auf das Gebiet der Epistemologie ausweiten. Ich bin überzeugt, dass es hier ein vielleicht genauso starkes Argument für die Existenz Gottes gibt, das vor allem im Hinblick auf Atheisten, die vom moralischen Realismus überzeugt sind, angeführt werden sollte. Es lautet in etwa so: da, gemäß Annahme des Atheisten, der Evolutionsprozess ziellos ist, sind unsere moralischen Überzeugungen Unfälle des Evolutionsprozesses. Denn hätte es im Verlauf der Evolution des Menschen andere Anforderungen der Umwelt gegeben, dann hätten sich ganz andere moralische Überzeugungen entwickelt – ohne dass sich unser Glaube, dass diese Überzeugungen wahr sind, auch nur ansatzweise verändert hätte. Ich denke, man kann dieses skeptische Szenario unmöglich abwehren, es sei denn, dass man sich darauf beruft, dass der Evolutionsprozess mit dem Ziel geleitet wurde, dass der Mensch epistemologischen Zugang zu den richtigen Moralvorstellungen sicher bekommt.
Beweist das dann für den atheistischen Moralrealisten nicht, dass Gott existieren muss? Mit Gott meine ich hier einen Schöpfer und intelligenten „Leiter“ der menschlichen Evolution, dessen Attribut moralischer Güte aufgrund der Tatsache feststeht, dass er besonders darum bemüht war, uns bei der Bildung unserer Moralvorstellungen zu helfen. Und wenn der Atheist kein Realist in Bezug auf objektive moralische Werte und Pflichten ist, könnte dieses Argument dann nicht zumindest zeigen, dass er unmöglich logisch konsequent sein kann, wenn er grundlos annimmt und danach lebt, dass wir irgendwie wissen könnten, welche der unendlich vielen moralischen Propositionen wahr sind, und nicht einfach von dem oben beschriebenen skeptischen Szenario in die Irre geführt werden?
So gesehen habe ich also eigentlich zwei Fragen: Sind Sie der Meinung, dieses Argument ist schlüssig, und wenn ja, warum verwenden Sie es dann nicht in Ihren Debatten und populärwissenschaftlichen Werken? Vielen Dank für die Zeit, die Sie sich hierfür nehmen!
Jonah
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Sie haben Grund zur Freude, Jonah, denn in meiner Debatte mit Erik Wielenberg über das Thema „Gott und Moral: Was ist die beste Erklärung für objektive moralische Werte und Pflichten?“ (https://www.youtube.com/watch?v=6iVyVJAMiOY) im Februar dieses Jahres habe ich genau das getan, was Sie hier vorgeschlagen haben.
Wielenberg ist Atheist und moralischer Realist, der den „Gottlosen Normativen Realismus“ vertritt, wie er ihn nennt. Er behandelt nicht nur Fragen der moralischen Ontologie, sondern auch Fragen der moralischen Epistemologie, und ist sehr darum bemüht, angeblich entlarvende Argumente der Evolution gegen moralisches Wissen zu widerlegen. In meiner Debatte mit ihm habe ich also Einwände gegen seinen moralischen Platonismus als auch seine Moralepistemologie vorgebracht. Von einem Aufsatz von Adam Johnson inspiriert, war ich der Meinung, dass Wielenbergs Ansicht anfällig gegenüber Alvin Plantingas gefeiertem Evolutionsargument gegen den Naturalismus (EGN) ist. Plantinga argumentiert, dass derjenige, der an die naturalistische Evolution glaubt, die Zuverlässigkeit seiner eigenen kognitiven Fähigkeiten, zu wahren Überzeugungen zu kommen, und somit auch seine Überzeugung, dass der Naturalismus wahr ist, sich selbst widerlegt. Da unsere moralischen Überzeugungen zu den Überzeugungen gehören, die von unserem kognitiven Vermögen gebildet werden, wird ihre Zuverlässigkeit auch von der naturalistischen Anschauung, die Wielenberg bejaht, in Frage gestellt. Ich führe das Argument folgendermaßen an:
Der dritte große Einwand, den ich habe, ist, dass Dr. Wielenbergs Ansicht moralisches Wissen unmöglich zu machen scheint. Dr. Wielenbergs Erklärung für moralisches Wissen scheint anfällig gegenüber Alvin Plantingas Evolutionsargument gegen den Naturalismus zu sein.[1] Plantinga argumentiert, dass der Naturalismus sich selbst widerspricht, denn wenn unser kognitives Denkvermögen sich durch naturalistische Prozesse entwickelt hat, ist es nicht auf die Wahrheit, sondern auf das Überleben ausgerichtet und kann somit nicht zuverlässig wahre Überzeugungen zustandebringen. Das wird vor allem anhand von Dr. Wielenbergs Ansicht deutlich, da unsere mentalen Zustände überhaupt keine Auswirkungen auf unsere Gehirnzustände haben. Der Inhalt unserer Überzeugungen ist somit irrelevant für unsere Überlebensfähigkeit. Doch wenn wir nicht voll damit rechnen können, dass unser Denkvermögen wahre Überzeugungen generiert, dann wird somit der Glaube an den Naturalismus selbst untergraben, da auch der durch dieses kognitive Denkvermögen zustande kam.
Wir können Plantingas Argument folgendermaßen auf unsere moralischen Überzeugungen anwenden:
1. Die Wahrscheinlichkeit, dass unser kognitives Denkvermögen aufgrund des Naturalismus und der Evolution zufolge zuverlässig ist, ist gering.
2. Wenn jemand an den Naturalismus und die Evolution glaubt und daher erkennt, dass die Wahrscheinlichkeit der Zuverlässigkeit seines kognitiven Denkvermögens gering ist, dann widerspricht dies der Überzeugung, dass sein kognitives Denkvermögen zuverlässig ist.
3. Wenn jemand auf einen Widerspruch gegen die Überzeugung stößt, dass sein kognitives Denkvermögen zuverlässig ist, dann hat er es mit einem Widerspruch gegen jede Überzeugung zu tun, die seinem Denkvermögen entspringt (einschließlich seiner moralischen Überzeugungen).
4. Wenn also jemand an den Naturalismus und an die Evolution glaubt und erkennt, dass die Wahrscheinlichkeit der Zuverlässigkeit seines kognitiven Denkvermögens gering ist, dann spricht er seinen moralischen Überzeugungen die Zuverlässigkeit ab.
Da unsere moralischen Überzeugungen von einem auf das Überleben, und nicht auf die Wahrheit, abzielenden Gehirn gebildet wurden, können wir keinerlei Vertrauen in die Wahrheit unserer moralischen Überzeugungen haben.
Dr. Wielenberg ist sich dieses Problems des Gottlosen Normativen Realismus sehr stark bewusst. Seine sehr komplexe Antwort auf dieses Problem lautet, vereinfacht gesagt, dass dieselben kognitiven Prozesse, die unsere moralischen Überzeugungen bilden, auch dafür sorgen, dass die abstrakten moralischen Eigenschaften erzeugt werden.[2] Bedenken Sie hierbei, dass diese Erklärung entscheidend von der angeblich existierenden kausalen Verbindung zwischen physischen Eigenschaften und abstrakten moralischen Eigenschaften abhängt, was vermutlich der merkwürdigste Aspekt seiner Philosophie ist. Doch Plantingas Argument liefert uns Gründe zu bezweifeln, ob auch unsere kognitiven Prozesse, die angeblich dafür sorgen, dass bestimmte moralische Eigenschaften erzeugt werden, die entsprechenden moralischen Überzeugungen tatsächlich auslösen werden und nicht Überzeugungen, die nur für das Überleben förderlich sind. Dr. Wielenberg versichert uns, dass, wahre moralische Überzeugungen zu haben, nicht unwahrscheinlicher ist, als überhaupt irgendwelche Überzeugungen zu haben.[3] Doch wenn Plantinga Recht hat, dann ist es gemäß dem Naturalismus ein extrem glücklicher Zufall, dass irgendwelche unserer Überzeugungen, einschließlich unserer moralischen Überzeugungen, sich tatsächlich als zuverlässig erweisen.
Die Lösung für dieses Problem besteht darin, nicht die Evolution abzustreiten, sondern den Naturalismus. Im Theismus kann Gott den Evolutionsprozess so leiten, dass die fundamentale Zuverlässigkeit unserer kognitiven Fähigkeiten gewährleistet wird. Da Dr. Wielenberg jedoch sowohl dem Naturalismus als auch der Evolution verpflichtet ist, hat er es mit einem Widerspruch gegen die Zuverlässigkeit seiner moralischen Überzeugungen zu tun. Gottloser Normativer Realismus macht moralisches Wissen somit unmöglich.
Ich lade Sie ein, sich die Debatte anzuschauen, um zu sehen, wie Dr. Wielenberg auf diesen Einwand reagiert.
Doch um Ihre Fragen noch zu beantworten: (1) Ja, der Einwand scheint mir schlüssig zu sein. (2) Ich habe das Argument, denke ich, aus dem Grund noch nicht verwendet, dass das EGN kein Argument gegen die Wahrheit des Naturalismus (oder für die Wahrheit des Theismus) ist, sondern ein Argument dafür, dass der Naturalismus nicht rational bekräftigt werden kann. Es zeigt, dass der Naturalismus, selbst wenn er wahr ist, nicht rational angenommen werden kann. Im Gegensatz hierzu zeigt das auf die moralische Ontologie bezogene theistische Argument, wenn erfolgreich vertreten, auf, dass der Theismus wahr und der Naturalismus falsch ist. Es passt also besser in meine positive Argumentation für den Theismus. Doch in dieser Debatte war das EGN sehr nützlich als Einwand gegen Wielenbergs Behauptung, dass der Gottlose Normative Realismus uns moralisches Wissen gewährleisten kann.
(Übers.: J. Booker)
Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/moral-knowledge-and-gods-existence
[1] Alvin Plantinga, Where the Conflict Really Lies: Science, Religion, and Naturalism (Oxford: Oxford University Press, 2011), S. 344-345.
[2] Er behauptet, dass unsere moralischen Überzeugungen zuverlässig sind, wenn ein bestimmter nicht-bewusster kognitiver Prozess eine Entität als Entität klassifiziert, die bestimmte nicht-moralische Eigenschaften hat, und diese Klassifizierung die bewusste moralische Überzeugung auslöst, dass die Entität eine bestimmte moralische Eigenschaft hat, und zudem hat ein Ding die moralische Eigenschaften dadurch, dass es die nicht-moralische Eigenschaft hat (Erik J. Wielenberg, Robust Ethics: The Metaphysics and Epistemology of Godless Normative Realism [Oxford: Oxford University Press, 2014], S. 105)
[3] Ibid., S. xii, 169, 172-173, 175.
– William Lane Craig