#669 Warum lässt Gott abtrünnige Christen nicht rechtzeitig sterben?
April 10, 2020
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
ich beschäftige mich gerade mit dem Thema des Festhaltens am Glauben und fand Ihren Artikel dazu gutes Futter für die grauen Zellen. In der letzten Zeit lässt mich dieses Thema nicht los. Im traditionellen Verständnis des Beharrens im Christenstand scheint es mir gewisse Schwierigkeiten zu geben, von denen Sie auch einige ansprechen. Aber ich möchte Ihnen eine Frage stellen zu einem ganz anderen Problem, das auf der Seite Gottes liegt: Wie lässt sich die Liebe Gottes mit der Lehre, dass Christen verloren gehen können, vereinbaren?
Wenn Gott seine Kinder so sehr liebt, dass er Christus in die Welt sandte, um für sie zu sterben, warum lässt er dann Christen, die sonst vom Glauben abfallen würden, nicht einfach rechtzeitig sterben? (Er weiß ja im Voraus, dass sie, wenn sie am Leben bleiben, abfallen werden.) Gott bestimmt doch darüber, wann wir sterben, und die Bibel stellt wiederholt klar, dass Gott seine Schafe innig liebt und nicht will, dass auch nur eines von ihnen verloren geht. Ich finde, dass es nicht zu viel von Gott verlangt ist und mehr zu seinem Wesen passt, wenn er das Leben eines Christen beendet, während dieser sich noch im „Stand der Gnade“ befindet. Ich muss hier an 1. Korinther 11,32 denken, das mir diesen Gedanken zu stützen scheint. Wenn Gott das kann, warum tut er es dann nicht? Mich würde interessieren, wie Sie darüber denken, denn es fällt mir echt schwer, Gottes Liebe damit zu vereinbaren, dass er den Abfall vom Glauben zulässt, vor allem, wenn dieser sich so leicht vermeiden ließe.
Danke.
Nader
Australia
Prof. Craigs Antwort
A
Dies ist eine Frage, die es echt in sich hat und über die ich noch nie richtig nachgedacht habe, Nader! Lassen Sie mich einfach ein paar Gedanken weitergeben, die uns vielleicht weiterbringen zu diesem Thema.
Eine mögliche Antwort auf die Frage ist die Behauptung, dass Gott ja genau auf diese Weise handelt: Er beendet das Leben potentiell abtrünniger Christen, bevor sie für immer von ihm abfallen. Das offensichtliche Problem dieser Antwort ist die Tatsache, dass es offenbar Beispiele gibt, wo Christen tatsächlich vom Glauben abgefallen sind. Aber hier müssen wir unterscheiden zwischen solchen Fällen und Fällen, wo Menschen eine Zeitlang vom Glauben abfallen, aber dann wieder zurückfinden (wie Petrus, als er Jesus verleugnete). Woher wollen wir wissen, dass Personen im Neuen Testament (z. B. Demas), die offenbar vom Glauben abfielen, später nicht wieder zu Christus zurückgefunden haben, und sei es auf ihrem Sterbebett? Und zweitens müssen wir unterscheiden zwischen echten Abtrünnigen und Menschen, die nie einen rettenden Glauben hatten, sondern nur einen Scheinglauben (wie Judas Iskariot); wer nicht wirklich gläubig ist, kann auch nicht vom Glauben abfallen.
Nach dieser Position ist es zwar theoretisch möglich, dass ein Christ vom Glauben abfällt und seine Erlösung wieder verliert, aber praktisch kommt dies nicht vor. Wie Sie selber erklären, ist dies eine molinistische Sicht, ähnlich den Positionen, die ich in meinem Artikel beschreibe. Ich habe dort geschrieben, dass Gott vielleicht Gnadengaben austeilt, von denen er im Voraus weiß, dass sie zum Festhalten der Christen an ihrem Glauben führen werden. Sie meinen, dass in Fällen, wo dies nicht funktionieren würde, Gott den Betreffenden rechtzeitig sterben lässt, bevor er abfallen kann. Beide Positionen glauben sowohl an das Beharren der Gläubigen im Christenstand als auch an die persönliche Freiheit des Einzelnen.
Eine alternative Position wäre, zu sagen, dass Gott moralisch ausreichende Gründe dafür hat, jemanden aus freien Stücken vom Glauben abfallen zu lassen, trotz all seiner (Gottes) Bemühungen, ihn zu retten. Denn Gott geht es nicht nur um den Einzelnen, sondern um eine ganze Welt von Geschöpfen, die sich frei entscheiden können und die er zu sich ziehen und erlösen will. Nehmen wir einmal an, er tötet Joe, bevor dieser abfallen kann. Worauf Joes kleine Tochter Sherri es nicht verkraften kann, dass „der liebe Gott“ ihr so früh ihren Papa weggenommen hat, und sich weigert, an Gott zu glauben. Oder vielleicht selber vom Glauben abfällt, in welchem Falle Gott auch sie rechtzeitig sterben lassen müsste! (Sie sehen, was für Kettenreaktionen hier möglich sind.) Und vielleicht wäre Sherri ja (oder ihre Tochter oder Enkelin usw.), hätte Gott ihr ihren Vater nicht so früh genommen und auch sie nicht frühzeitig sterben lassen, eine große christliche Liederdichterin oder Missionsärztin geworden, durch die Tausende zu Christus fanden. Statt eines einzigen Abtrünnigen in der Hölle hätten wir am Ende womöglich Tausende in der Hölle! Wenn wir bedenken, dass es Gottes Ziel ist, so viele Menschen wie möglich dazu zu bringen, dass sie aus freien Stücken die Erlösung wählen, ist es eigentlich überhaupt nicht unplausibel, dass in dieser besten aller möglichen Welten auch einzelne vom Glauben abgefallene Christen sind.
– William Lane Craig