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#670 Noch einmal: Das Problem der „unerreichten Menschen“

#670 Noch einmal: Das Problem der „unerreichten Menschen“

April 10, 2020

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

danke für Ihre ausgezeichnete Arbeit in der christlichen Apologetik und Philosophie. Ich habe in ihr viel von Gottes Weisheit und Vernunft gefunden, und ich bin dankbar für die vielen Gelegenheiten, wo sie mir durch Phasen des Zweifelns hindurchgeholfen hat.

Ihr neuestes Video mit dem Titel „The problem of those who have never heard of Christ“ [„Das Problem der Menschen, die nie von Christus gehört haben“] hat in mir eine tiefe Frage angestoßen. Es ist eine der Fragen, die ich, wie Sie das ausdrücken würden, auf die lange Bank geschoben hatte, aber jetzt bin ich bereit, sie zu stellen und den ernsthaften Versuch zu machen, zu einer Antwort zu kommen, mit der ich leben kann.

In dem Video, das „das Problem der vom Evangelium Unerreichten“ behandelt, wird die folgende Lösung angeboten: Es ist möglich, dass Gott durch sein „mittleres Wissen“ die Welt in seiner Vorsehung so geordnet hat, dass jeder Mensch, der in einer möglichen Situation aus freien Stücken zu einer erlösenden Gottesbeziehung kommen würde, auch in mindestens eine solche Situation kommt. Woraus dann folgt, dass jeder, der nicht zu einer erlösenden Gottesbeziehung gelangt, jemand ist, der auch unter keinen anderen Umständen zu solch einer Beziehung gelangen würde. Das „ungute Gefühl“, das einen dazu treibt, eine Lösung dieser Frage zu suchen, besteht darin, dass wir es „unfair“ finden, wenn Gott Menschen in die Hölle schickt, die, wäre ihr Leben anders verlaufen, zu einer erlösenden Beziehung zu ihm gelangt wären.

Ich habe zwei Fragen zu diesem Lösungsversuch. Erstens: Ist es vernünftig, zu denken, dass jemand, der gestorben ist, ohne Christus kennenzulernen, auch dann nie zu Christus gekommen wäre, wenn sein Leben anders verlaufen wäre? Um diese Prämisse akzeptieren zu können, müsste man – so scheint mir – bei anderen Argumenten für den Theismus zurückstecken.

Nehmen wir z. B. die folgenden beiden Aussagen:

1) „Ist es möglich, dass die Welt unverursacht und aus dem Nichts plötzlich ins Sein kam? Ja, es ist möglich, aber höchst unwahrscheinlich, und daher ist es vernünftiger, zu glauben, dass das Universum eine Ursache hat.“

Ähnlich 2) „Ist es möglich, dass Gott die Welt so geordnet hat, dass jeder Mensch, der nicht erlöst wird, jemand ist, der unter keinen Umständen jemals erlöst worden wäre? Ja, es ist möglich, aber höchst unwahrscheinlich, und daher ist es vernünftiger, zu glauben, dass es Menschen gibt, die unerlöst gestorben sind, aber die erlöst worden wären, wenn sie das Evangelium gehört hätten oder ihr Leben anders verlaufen wäre.“

Können Sie mir erklären, wie man 1) akzeptieren, aber gleichzeitig 2) ablehnen kann?

Und meine zweite Frage: Können Sie erklären, inwieweit die in Ihrem Video vorgeschlagene Lösung das Problem nicht einfach um einen Schritt zurückverlegt? In dem Video gibt es die Präsupposition, dass die Seele eines Menschen bereits existiert, bevor sie in den Körper kommt, und dass jede Seele bereits eine vorherbestimmte „Persönlichkeit“ hat. Nehmen wir als Beispiel eine konkrete Person namens Max Mustermann, die eines Tages sterben wird, ohne eine erlösende Gottesbegegnung gehabt zu haben. Bevor Max geboren wurde, gab es bereits eine Seele, die wir „Max Mustermanns Seele“ nennen können und die spezifische Eigenschaften hatte, die sie einzigartig machen und von anderen Seelen unterscheiden. Aufgrund seines mittleren Wissens wusste Gott schon, bevor er Max‘ Seele erschuf, dass Max vor seinem Tod nicht zu einer erlösenden Beziehung zu Gott kommen würde. Jetzt lautet das Problem: „Ist Gott gerecht, wenn er Seelen erschafft, von denen er von vornherein weiß, dass sie keine Chance haben, erlöst zu werden?“ Ich würde gerne Ihre Antworten auf diese Fragen hören, und vielleicht könnten Sie mir auch Bücher zur vertiefenden Lektüre empfehlen.

Danke für alles, was Sie für den christlichen Glauben getan haben. Möge Gott Ihren Dienst weiter segnen!

Addison

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Danke, Addison, dass Sie sich unser neuestes Zangmeister-Video angesehen haben! Ich freue mich, dass es Sie dazu angeregt hat, sich tiefer mit diesem schwierigen Thema zu beschäftigen.

Nun zu Ihrer ersten Frage: „Ist es vernünftig, zu denken, dass jemand, der gestorben ist, ohne Christus kennenzulernen, auch dann nie zu Christus gekommen wäre, wenn sein Leben anders verlaufen wäre?“ Die Frage ist hier zuallererst die, ob es möglich ist, dass niemand, der gestorben ist, ohne Christus kennenzulernen, zu Christus gefunden hätte, wenn sein Leben anders verlaufen wäre. Ich habe den Eindruck, dass wir, wenn Gott ein Gott mit mittlerem Wissen ist, nicht sagen können, dass es unmöglich ist, dass Gott in seiner Vorsehung die Welt so eingerichtet hat, dass jeder, der in seinem Leben nicht zu Christus gefunden hat, ein Mensch ist, von dem Gott weiß, dass er unter keinen denkbaren Umständen zu Christus gekommen wäre. Dies ist jedenfalls die wohl radikalste molinistische Lösung. Eine gemäßigtere Position wäre, dass es Menschen gibt, die zu Christus gekommen wären, wenn sie das Evangelium gehört hätten, aber die auch so die Erlösung erlangen, und zwar dadurch, dass sie im Glauben auf die allgemeine Offenbarung Gottes antworten. Für andere, noch vorsichtigere molinistische Lösungen vgl. Q&A #669.

Was ist nun das Problem mit solch einer molinistischen Lösung? Sie befürchten, dass sie unseren Umgang mit angeblichen Widerlegungen von Prämissen in anderen theistischen Argumenten beeinträchtigen könnte. Nun, nehmen wir an, als Reaktion auf die Prämisse „Alles, was beginnt, hat eine Ursache“ sagt der Kritiker: „Es ist möglich, dass die Welt unverursacht und aus dem Nichts plötzlich ins Sein kam.“ Warum ist es möglich, dass Gott in seiner Vorsehung die Welt so eingerichtet hat, dass jeder, der nicht zu Christus findet, jemand ist, von dem Gott weiß, dass er unter keinen Umständen zu Christus gekommen wäre, aber unmöglich, dass die Welt unverursacht, einfach so aus dem Nichts entstanden ist? Ich schätze einmal, ich sehe diese beiden Aussagen als erkenntnistheoretisch nicht gleichwertig an, Addison. Im ersten Fall können wir eine Erklärung geben, warum so etwas möglich ist, im zweiten Fall steht solch eine Erklärung nicht zur Verfügung, ja mehr noch: Die Behauptung, das Universum sei von alleine aus dem Nichts entstanden, liegt, wie ich schon öfters gesagt habe, noch unter Hokuspokus-Niveau.

Sie befürchten, dass dann, wenn wir sagen: „Es ist möglich, dass Gott die Welt so geordnet hat, dass jeder Mensch, der nicht erlöst wird, jemand ist, der unter keinen Umständen jemals erlöst worden wäre“, ein Kritiker erwidern wird: „Ja, es ist möglich, aber höchst unwahrscheinlich.“ Dieser Schachzug des Kritikers ist analog dazu, dass er sich von dem logischen Problem des Bösen auf das probabilistische Problem des Bösen zurückzieht: „ Es ist möglich, dass Gott moralisch hinreichende Gründe dafür hat, das Böse und das Leiden in der Welt zuzulassen, aber es ist höchst unwahrscheinlich.“ Die richtige Antwort gegenüber dem Kritiker besteht darin, ihn aufzufordern, zu zeigen, dass die vorgeschlagene Lösung tatsächlich unwahrscheinlich ist.

In meinen Schriften über das Problem der vom Evangelium Unerreichten spreche ich nicht nur die Möglichkeit der vorgeschlagenen molinistischen Lösung an, sondern auch ihre Wahrscheinlichkeit. Aber beachten Sie hier bitte, dass diese Zangmeister-Videos notwendigerweise sehr gedrängte Zusammenfassungen sind, die nicht alles abdecken können. Ich hoffe, dass Personen, die noch Fragen haben, sich die Zeit nehmen, auch meine veröffentlichten Artikel zu diesem Thema zu lesen. Ich argumentiere, dass eine Welt, wie diese Lösung sie voraussetzt, empirisch nicht anders wäre als eine Welt, in welcher die örtliche und zeitliche Position des Einzelnen in der Geschichte gänzlich ungeplant sind. Wir können daher nicht sagen, dass es unwahrscheinlich ist, dass wir in einer solchen von Gottes Vorsehung eingerichteten Welt leben.

Und nun zu Ihrer zweiten Frage: ob die in dem Video vorgeschlagene Lösung „das Problem nicht einfach um einen Schritt zurückverlegt“. Das ist definitiv nicht der Fall! Der Molinismus lehrt mitnichten, dass „die Seele eines Menschen bereits existiert, bevor sie in den Körper kommt, und dass jede Seele bereits eine vorherbestimmte ‚Persönlichkeit‘ hat“! Aber Sie sehen ganz richtig, dass nach molinistischer Auffassung „Gott aufgrund seines mittleren Wissens schon, bevor er Max‘ Seele erschuf, wusste, dass Max vor seinem Tod nicht zu einer erlösenden Beziehung zu Gott kommen würde.“ Sie glauben, dass das Problem jetzt lautet: „Ist Gott gerecht, wenn er Seelen erschafft, von denen er von vornherein weiß, dass sie keine Chance haben, erlöst zu werden?“ O, Addison, hier sind Sie voll in die Falle des theologischen Fatalismus getappt! Wie kommen Sie zu der Auffassung, dass Max keine Chance hat, vor seinem Tod Gott so kennenzulernen, dass er erlöst wird? Es gibt nicht nur jede Menge mögliche Welten, in denen Max zu einer erlösenden Gottesbeziehung gelangt, sondern selbst in den nach Gott möglichen Welten, in denen er verlorengeht, hat Max die Freiheit, auf Gottes Gnade einzugehen und erlöst zu werden. Seine Erlösung liegt in seinen eigenen Händen.

Was weiterführende Literatur zu dem Thema betrifft, möchte ich Ihnen als Erstes mein eigenes Buch The Only Wise God: The Compatibility of Divine Foreknowledge and Human Freedom (Eugene, Oregon: Wipf and Stock, 2000) empfehlen. Der nächste Schritt wäre dann Thomas Flint, Divine Providence: The Molinist Account (Ithaca, London: Cornell University Press, 2006). Und es gibt natürlich keinen Ersatz dafür, Luis de Molina selber zu lesen. (Anmerkung des Übersetzers: Eine neue deutsche Teilausgabe ist: Luis de Molina, Göttlicher Plan und menschliche Freiheit, Lateinisch-Deutsch, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2018.)

– William Lane Craig

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