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#671 Wie zufällig sind „zufällige“ Mutationen?

#671 Wie zufällig sind „zufällige“ Mutationen?

April 10, 2020

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

herzlichen Dank, dass Sie auf Ihrer Website die „Frage der Woche“ bringen. Es ist sehr hilfreich, diese Fragen an Sie sowie Ihre durchdachten Antworten zu lesen. Ich hätte eine Frage zu etwas, was Sie in einem Ihrer „Defenders Series 3“-Seminare sagten. Die folgenden Zitate habe ich Ihrem Seminar „Excursus on Creation of Life and Biological Diversity (Part 28): Is Genesis 1 in Conflict with the Theory of Evolution?“ [„Exkurs über die Erschaffung des Lebens und die biologische Vielfalt, Teil 28: Steht 1. Mose 1 in Widerspruch zur Evolutionstheorie?“] entnommen, das Sie am 11. September 2019 hielten. Sie sagten damals:

Nach Ayala meinen Evolutionsbiologen, wenn sie sagen, dass die Mutationen, die zur Höherentwicklung führen, zufällig sind, dies nicht so, dass sie aufs Geratewohl geschehen, sondern dass sie keinen Bezug zu ihrem Nutzen für den betreffenden Organismus haben. Sie meinen, dass diese Mutationen völlig unabhängig von ihrem Nutzen für den Wirtsorganismus geschehen. Dies ist hochsignifikant. Dem Eindruck, den die streitenden Parteien bei diesem Thema erwecken, zum Trotz versteigt der Wissenschaftler sich hier nicht zu der vermessenen philosophischen Behauptung, dass die biologischen Mutationen komplett willkürlich verlaufen, sodass der Evolutionsprozess ungerichtet oder ziellos wäre, sondern er will so verstanden werden, dass die Mutationen nicht zum Wohle des Wirtsorganismus geschehen. Wenn wir „zufällig“ im Sinne von „unabhängig von dem Nutzen für den Organismus“ verstehen, dann ist Zufälligkeit nicht unvereinbar mit Zielgerichtetheit oder Zweck.

Und etwas später sagen Sie:

Solch eine Definition von „zufällig“ ist voll vereinbar mit der Vorstellung, dass Gott Mutationen will oder sogar verursacht und dabei ein bestimmtes Ziel im Auge hat. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Nehmen wir an, Gott veranlasst in seiner Vorsehung eine Mutation in einem Organismus, die nicht diesem Organismus, sondern einem anderen Zweck dienen soll, z. B. dass dieser Organismus eine leichtere Beute für andere Organismen wird, die Gott fördern will. Oder Gott weiß, dass dieser Organismus zu einem Fossil werden wird, das eines Tages von Jones entdeckt werden und sein Interesse an der Paläontologie wecken wird, sodass Jones den Beruf wählt, den Gott für ihn geplant hat. In so einem Fall ist die Mutation sowohl zielgerichtet als auch zufällig.

Wahrscheinlich verstehe ich Sie hier falsch, aber wollen Sie sagen, dass die Evolutionstheorie nicht mit dem christlichen Theismus unvereinbar ist, weil sie die Möglichkeit zulässt, dass Gott komplett funktionale biologische Systeme auf indirekte Art und Weise erschaffen hat, bloß indem er die Mutationen in anderen Organismen negativ manipulierte? Wenn das tatsächlich möglich wäre, könnte ich das als interessantes Schlupfloch betrachten, das wir christlichen Theisten apologetisch nutzen können. Aber ich habe das Gefühl, dass es nur so ein kleines Zugeständnis ist, ja vielleicht nur ein Fall von Wortklauberei. Aber bestimmt sehe ich das falsch; bitte korrigieren Sie mich.

Mit den besten Grüßen,

Hunter

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Ich habe den Eindruck, dass Sie mich nicht richtig verstanden haben, Hunter, und das Thema ist so wichtig, dass eine Klarstellung angebracht ist. Wie ich erklärt habe, gibt es auf beiden Seiten der „Schöpfung vs. Evolution“-Debatte zu viele Leute, die glauben, dass das Wort „zufällig“, wenn es von Evolutionsbiologen zur Beschreibung von Mutationen benutzt wird, zwecklos oder ziellos oder rein zufällig bedeutet. Doch genau das meinen die Evolutionsbiologen nicht. Was sie sagen wollen, ist, dass die Mutationen unabhängig sind von ihrem Nutzen für den Organismus, in dem sie geschehen. Solch ein Verständnis von „zufällig“ steht nicht in Widerspruch dazu, dass Gott sich bei diesen Mutationen etwas gedacht oder sie sogar verursacht hat.

Impliziere ich also, dass „die Evolutionstheorie nicht mit dem christlichen Theismus unvereinbar ist, weil sie die Möglichkeit zulässt, dass Gott komplett funktionale biologische Systeme auf indirekte Art und Weise erschaffen hat“? Diese Aussage ist wahr, aber keine Implikation von dem, was ich hier sage. Was ich impliziere, ist vielmehr, dass die Evolutionstheorie nicht unvereinbar mit dem christlichen Theismus ist, weil sie nicht behauptet, dass die die Höherentwicklung fördernden Mutationen durch Zufall oder ohne Zweck und Ziel geschehen. Und ob ich impliziere, dass Gott komplett funktionierende biologische Systeme indirekt erschaffen haben könnte, „bloß indem er die Mutationen in anderen Organismen negativ manipulierte“? Diese Frage verstehe ich nicht. Was soll es bedeuten, Mutationen negativ zu manipulieren? Was ich impliziere, ist, dass Gott selbstverständlich in der Lage ist, voll funktionsfähige biologische Organismen de novo zu erschaffen, aber dass er auch beschlossen haben könnte, sie indirekt zu erschaffen, indem er bewusst die Mutationen verursachte, die die evolutionäre Höherentwicklung vorangebracht haben. In dieser Sicht ist Gott nicht wie der abstrakte Uhrmacher-Gott des Deismus, sondern zutiefst an dem Evolutionsprozess beteiligt.

Ist dies „nur so ein kleines Zugeständnis, ja vielleicht nur ein Fall von Wortklauberei“? Ein Zugeständnis von wem? Von den Evolutionsbiologen? Nein, es ist überhaupt kein Zugeständnis, sondern nur eine akkurate Beschreibung dessen, was die Theorie der Evolution behauptet. Und es ist erst recht keine Wortklauberei, sondern etwas von zentraler Bedeutung. Wir sehen hier nämlich, dass die Evolutionstheorie nicht behauptet, dass die Mutationen, die der evolutionären Entwicklung und damit der Evolution selber zugrunde liegen, ziellos oder rein zufällig erfolgen, wie viele Wissenschaftsjournalisten und manchmal sogar unvorsichtige Wissenschaftler das darstellen. Wenn wir die Bedeutung des Wortes „zufällig“ in der Theorie der Evolution richtig verstehen, dann erkennen wir, dass die Evolution voll vereinbar damit ist, dass Gott den evolutionären Prozess in seiner Vorsehung gesteuert hat.

– William Lane Craig

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