#402 Warum lässt Gott es zu, dass Muslime dauerhaft getäuscht werden?
January 14, 2016
F
Guten Tag Herr Prof. Craig,
zunächst bitte ich um Entschuldigung für mein schlechtes Englisch.
Ich habe viele Ihrer Debatten und Vorlesungen gesehen und gehört und finde sie sehr gut und nützlich.
Ich habe eine Frage zum klassischen (insbesondere christlichen) Theismus. Meine Frage betrifft die guten Menschen, die eine andere Religion praktizieren, also Menschen, die Gott lieben, ihn anbeten, und viele gute Taten für ihn tun, die aber ohne Kenntnis des wahren Gottes sterben (von dem Sie ja glauben, es sei der christliche Gott).
In meiner muslimischen Gesellschaft gibt es Menschen, deren Wissen vom Christentum sich darauf beschränkt, dass sie es für eine weitere falsche Religion unter vielen halten, wie alle anderen nicht-islamischen Religionen auch, und ihnen kommt die Möglichkeit, dass es die wahre Religion sein könnte, gar nicht in den Sinn, da sie dazu keinen Anlass haben. Also verbleiben sie im Islam und tun aus reinem Herzen alles in ihrer Macht stehende, um gute Muslime zu sein. Wie kann Gott sie da in der Unwissenheit bzw. Täuschung belassen? Verdienen sie es nicht, aus dieser Täuschung befreit zu werden, anstatt ihr ganzes Leben auf Basis dieser Täuschung zu leben?
Es tut mir leid für mein Englisch, und besten Dank im Voraus für eine Antwort.
Raef
Jordan
Prof. Craigs Antwort
A
Ihrer Frage, Raef, muss sich jeder religiöse Partikularist [1] stellen, sei es ein Muslim oder ein Christ. Ich hätte Ihnen gut und gerne die gleiche Frage stellen können:
"In meiner christlichen Gesellschaft gibt es Menschen, deren Wissen vom Islam sich darauf beschränkt, dass sie ihn für eine weitere falsche Religion unter vielen halten, wie alle anderen nicht-christlichen Religionen auch, und ihnen kommt die Möglichkeit, dass der Islam die wahre Religion sein könnte, gar nicht in den Sinn, da sie dazu keinen Anlass haben. Also verbleiben sie im christlichen Glauben und tun aus reinem Herzen alles in ihrer Macht stehende, um gute Christen zu sein. Wie kann Allah sie da in Unwissenheit bzw. Täuschung belassen?"
Obwohl einige Leute fälschlicherweise versucht haben, den Islam als inklusivistische Religion darzustellen, sagt der Koran ziemlich klar, dass Menschen, welche die christlichen Überzeugungen über Jesus teilen, Gotteslästerer sind, deren Bestimmung die Hölle ist. Also muss sich der Moslem genau wie der Christ der schwierigen Frage stellen, wie Gott es zulassen kann, dass Menschen einer religiöser Wahnvorstellung unterliegen?
Wie mir scheint, ist Gott nicht ungerecht, wenn er einige Menschen in einer Täuschung belässt, weil diese Täuschung eine Folge ihrer eigenen Sünde und der Ablehnung der allgemeinen Offenbarung Gottes in der Natur und im Gewissen ist. (Lesen Sie mal das erste Kapitel im Brief des Paulus an die Römer.) Daher ist es falsch zu sagen, sie "verdienen es, aus dieser Täuschung befreit zu werden". Im Gegenteil: Verdient haben wir alle die Verdammnis, nicht die Gnade.
Aber hier wiegt das Problem für den Christen schwerer als für den Moslem. Denn die Bibel bekräftigt, dass Gott diese Menschen liebt und ihre Errettung wünscht. Im Gegensatz dazu sagt der Koran wiederholt, dass Allah die Sünder und Ungläubigen nicht liebt. Seine Liebe wird nur denen zuteil, die ihn zuerst lieben. Also liegt darin kein Widerspruch, wenn Allah solche Leute einfach abschreibt. Natürlich halte ich das für einen Beweis der moralischen Unzulänglichkeit der islamischen Gottesvorstellung. Als Person, deren Liebe parteiisch und an Bedingungen geknüpft ist und deren Liebe erst verdient werden muss, ist Allah nicht das größte vorstellbare Wesen und daher nicht Gott. Das Problem des Islam ist nicht, dass Gott ungerecht ist, wenn er Menschen in der Täuschung belässt, sondern dass er kein liebender Gott ist.
Mit dieser Frage habe ich sehr intensiv gerungen. Ein ganzer Abschnitt auf dieser Webseite widmet sich meinen Veröffentlichungen zu diesem Thema; ich erlaube mir daher, Sie auf diese Artikel zu verweisen: http://www.reasonablefaith.org/scholarly-articles/christian-particularism.
Kurz zusammengefasst sage ich, dass bislang niemand einen Widerspruch zwischen folgenden Thesen zeigen konnte:
1. Gott liebt alle Menschen und ist allmächtig.
Sowie:
2. Einige Leute hören nie das Evangelium von Jesus Christus und gehen verloren.
Zweitens vertrete ich die Auffassung, dass wir zeigen können, dass (1) und (2) konsistent sind, wenn wir eine dritte Aussage hinzufügen, nämlich:
3. Es gibt in der Welt ein optimales Verhältnis zwischen Geretteten und Verlorenen, und diejenigen, die das Evangelium nie gehört haben, hätten es selbst dann nicht geglaubt, wenn sie es gehört hätten.
Der Kerngedanke dabei ist, dass aufgrund der menschlichen Freiheit das Verhältnis zwischen Erretteten und Verlorenen in der wirklichen Welt (welche Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart umfasst) so gut wie nur möglich ist bzw. so gut wie Gott es nur einrichten konnte; und er hat die Welt in seiner Vorsehung so geordnet, dass derjenige, der das Evangelium glauben würde, wenn er es hören würde, zu einer Zeit und an einem Ort in der Geschichte geboren wird, bei der er es hören wird. Daher wird jeder, der sich wünschen würde, errettet zu werden, auch tatsächlich gerettet werden. Solange gezeigt werden kann, dass (3) auch nur möglicherweise wahr ist, ist damit auch gezeigt, dass zwischen (1) und (2) kein Widerspruch besteht.
Gott ist die Misere der Menschen in muslimischen Ländern nicht gleichgültig. Jemand in einer muslimischen Gesellschaft, der nie eine zutreffende Darstellung des Evangeliums von Christus gehört hat, wird nicht im Hinblick darauf gerichtet werden, ob er an Christus geglaubt hat oder nicht, denn das wäre offenkundig unfair, sondern vielmehr im Hinblick auf seine Reaktion auf Gottes allgemeine Offenbarung in der Natur und im Gewissen. Wenn er im Glauben entsprechend auf diese Offenbarung reagiert, wird er auch als Muslim errettet werden, wenn auch nicht aufgrund des Islams. Wenn er sich jedoch nicht entsprechend darauf einlässt und damit verlorengeht, dann hätte er auch dann nicht dem Evangelium geglaubt, wenn er es gehört hätte. Jemand, der auf Gottes allgemeine Offenbarung positiv reagiert, wird von Gott zu einer volleren Offenbarung seiner selbst in Christus gezogen. Vielleicht wird er – soweit ihm das möglich ist – dem Beispiel Mohammeds folgen und sich an das Volk des Buches (Juden oder Christen) wenden und sie bitten, ihm Dinge zu erklären. Vielleicht wird Gott ihn durch einen Traum oder eine Vision zur Kenntnis des Evangeliums bringen, wie es heute in muslimischen Ländern auf der ganzen Welt geschieht. Jemand, der Gott wahrhaftig sucht, wird an Christus glauben, wenn er das Evangelium in angemessener Form hört.
William Lane Craig
(Übers.: R. Nolte)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/why-does-god-leave-muslims-deluded
[1]
Ein Partikularist (oder Exklusivist) glaubt, dass nur eine Religion die wahre Religion ist und zur ewigen Seligkeit führt. Ein Universalist (oder Inklusivist) hingegen glaubt, dass alle oder viele Religionen einen wahren Kern haben und zur ewigen Seligkeit führen können.
(Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig