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#357 Wie kann man moralisch nur so abgestumpft sein?

#357 Wie kann man moralisch nur so abgestumpft sein?

January 14, 2016

F

Sehr geehrter Prof. Craig!

Ich verfolge Ihre Arbeit nun schon seit einiger Zeit und bin ein richtiger Fan von Ihnen! Ich lese fast täglich in Ihren Büchern, damit ich daraus lerne und mich als Christ auf die Welt da draußen vorbereite, die nur darauf wartet, mich an Ort und Stelle zu zerreißen! Ich möchte Ihnen heute eine Frage zur zweiten Prämisse Ihres Moralarguments stellen. Das Argument bedeutet mir sehr viel, da ich sehe, es gibt wahrhaftig Gutes und Böses in unserer Welt; ich bin Christ geworden, weil ich wirklich an Liebe, Gerechtigkeit usf. glaube (und das schon bevor ich von Ihrem Argument je gehört habe). Als ich Ihre Debatten und Schriften kennengelernt habe und von diesem Argument erfahren habe, war ich höchst erstaunt! Sie werden verstehen, weshalb mir das Argument so wichtig ist; schließlich hat es ganz eng mit meiner Bekehrung zum Christentum zu tun!

Nun zu Ihrem Argument:

Prämisse 1: Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es keine objektiven moralischen Werte und Pflichten.

Prämisse 2: Es gibt aber objektive Werte und Pflichten.

Konklusion: Daher gibt es einen Gott.

Prämisse 1: Die zugrundeliegende Ontologie oder Seinslehre der ersten Prämisse habe ich verstanden: Damit diese Wertmaßstäbe und Pflichten objektiv verbindlich sein können, müssen sie ihren Grund in Gott selbst haben. Gäbe es keinen Gott – wer hätte das Recht, uns zu moralischem Handeln zu verpflichten? Moralische Werte und Pflichten würden so zum gigantischen relativistischen Schlachtfeld; wer auch immer siegreich aus diesem Kampf hervorgeht, diktiert den übrigen seine Regeln.

Prämisse 2: Nun zu meinen Fragen zur 2. Prämisse. Ich verstehe, dass unsere moralische Erfahrung prinzipiell gerechtfertigt ist [1], wie es ja auch bei Wahrnehmungen im physikalischen Bereich gilt. Meine Frage, in meiner Generation vielleicht recht gut bekannt, lautet jedoch: Wieso gewinnt man einen solch starken Eindruck, dass diese Werte und Pflichten relativ sind? Ich glaube wirklich an das Gute wie Liebe, Dankbarkeit, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Aufopferung und es ist mir völlig klar, dass Dinge wie Grausamkeit, Brutalität und Rache böse sind. In unseren Breiten dürfte wohl niemand daran zweifeln. Was mir Probleme bereitet, ist folgendes: Wenn ich an den Holocaust und an die Kreuzzüge denke, oder an die wilden Stämme denke, die so abscheuliche Taten begehen – glaubten diese Menschen wirklich an dieselben Werte wie ich? Ich kann einfach nicht verstehen, wie man Kleinkinder verbrennen, sie als Zielscheibe für Schießübungen missbrauchen oder Menschen in Massen abschlachten kann! Oder der Kannibalismus unter den Stämmen; und wie können diese Menschen ihren Kindern und Alten gegenüber so grausam sein? Wie kann man ganze Volksgruppen versklaven und totschlagen? Es scheint mir alles so unvorstellbar! Wie kann es sein, dass diese Menschen die Werte wie Liebe, Gleichberechtigung anscheinend gar nicht haben, anders als wir? Mir ist schon klar: Auch wenn noch so viele Menschen diese Dinge tun, sie bleiben objektiv falsch. Ich verstehe nur nicht, wie das Falsche daran so vielen Menschen entgehen konnte. Wenn es sich dabei wirklich um objektive Werte und Pflichten handelt, müssten sie dann nicht um den Irrtum ihres Tuns gewusst haben? Sind die Werte so verschieden, oder ist es nur der Maßstab, an dem sich diese Werte ausrichten? Ist Brutalität eine Sache, die manche einfach eher tolerieren als andere? Ich verstehe es einfach nicht, und darum bitte ich Sie, Prof. Craig, mir die Sache zu erläutern.

Julian

United States

Prof. Craigs Antwort

A

Mir scheint, Sie sind da in die altbekannte Falle getappt! Sie verwechseln die Frage nach der Ontologie der Moral mit deren Epistemologie, Julian. Die Ontologie der Moral hat mit der objektiven Realität moralischer Werte und Pflichten zu tun. Die Epistemologie dagegen beschäftigt sich mit der Frage, wie wir Kenntnis von diesen moralischen Werten und Pflichten erlangen. Das Moralargument hat einzig mit deren Ontologie zu tun; wie wir zur Kenntnis dieser moralischen Werte und Pflichten gelangen, darüber sagt das Argument nichts. Damit ist es im Hinblick auf die relative Klarheit oder Undeutlichkeit im Bereich der Moral völlig neutral. Es wäre völlig im Einklang mit dem Argument, zu vertreten, man erlange einzig und allein durch eine innere, göttliche Erleuchtung Kenntnis von den moralischen Werten und Pflichten; wer diese göttliche Erleuchtung in sich unterdrückt, tappe in moralischer Dunkelheit. Das würde das Phänomen im Großen und Ganzen erklären, von dem Sie sprechen. Wie Sie wissen, vertrete ich eine solche Epistemologie persönlich nicht; im Gegenteil: Mein Punkt ist ja gerade, dass das Moralargument, welches ich vertrete, keine moralische Epistemologie voraussetzt oder impliziert. Das Argument ist in der Hinsicht „neutral“.

Die falsche Annahme hinter Ihrer Frage lautet daher: „Wenn diese Werte und Pflichten tatsächlich von objektiver Bedeutung sind, dann scheint es, als müsse doch jedermann davon Kenntnis haben!“ Das aber ist ein „non sequitur“: Aus der objektiven Gültigkeit moralischer Werte und Pflichten folgt nicht, dass auch jeder Mensch davon weiß. Gerade dem, der über eine fundierte Sündenlehre verfügt, müsste das ganz klar einleuchten, denn die Bibel lehrt ausdrücklich: Die Vernunft gefallener, sündiger Menschen ist verfinstert; ihr Verstand ist verdorben, so dass sie sich selbst in Unmoral stürzen (Röm 1,18-32). Paulus scheint sogar davon auszugehen, dass die Menschen um die Verdorbenheit ihres Handelns zwar wissen, es aber dennoch tun – aus selbstsüchtigem Vergnügen (Röm 1,32; vgl 2,15). Das Versagen liegt beim Menschen, der etwas wahrnimmt, nicht im Wahrgenommenen selbst: „Das Auge ist die Leuchte des Leibes. Wenn nun dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge verdorben ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!“ (Mt 6,22f).

Dazu kommt die kulturelle Konditionierung, das Ergebnis einer verdrehten oder verdorbenen Gesellschaft. Die Sünde ist nicht nur Sache des einzelnen, sondern verbirgt sich in gesellschaftlichen Institutionen und Gegebenheiten, die das Leben des einzelnen mitbestimmen. Beachten Sie aber: Indem wir der moralischen Auffassung einer Gesellschaft widersprechen oder behaupten, die moralische Verfassung des Menschen sei auf vergangene gesellschaftliche Zustände zurückzuführen, bestätigen wir damit die Objektivität moralischer Werte und Pflichten! Wir glauben ja nicht, die Dinge hätten sich bloß verändert, sondern wir gehen davon aus, sie hätten sich verbessert! Weit davon entfernt, hier einem Relativismus das Wort zu reden, setzen moralische Meinungsverschiedenheiten und Verbesserungen die Objektivität moralischer Werte ja schon voraus!

Ich glaube allerdings, Sie übertreiben ein wenig – so groß ist die moralische Abweichung unter den Völkern gar nicht. Anthropologen erzählen uns etwas ganz anderes: Der grundlegende Sittenkodex wird von allen Völkern der Welt geteilt; es gibt da sehr große Gemeinsamkeiten. Was den Anschein eines Relativismus’ erwecken mag, ist nur die verschiedene Art und Weise, in welcher diese allgemeinen moralischen Werte in jeder Kultur in Erscheinung treten. So ist beispielsweise die Bescheidenheit eine allgemein akzeptierte Tugend, aber was als Bescheidenheit gilt, ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Oder nehmen Sie den Kannibalismus. Was ich über das Verhalten kannibalischer Stämme gelesen habe, trügt der erste Eindruck. Die Stammesglieder glauben sehr wohl an die Aussage: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Das Problem ist nur, Mitglieder eines anderen Stammes zählten für sie nicht zum „Nächsten“! Der Kannibalismus richtete sich also nie gegen eigene Stammesgenossen, sondern ausschließlich gegen Fremde. Wer nicht zum eigenen Stamm gehörte, dem wurde sozusagen das „Menschsein“ abgesprochen. Bei den einstigen Negersklaven und im Holocaust geschah etwas Ähnliches: Die Opfer dieses Missbrauchs wurden nicht als Menschen angesehen; man gestand ihnen keine Menschenrechte zu. Das Problem liegt manchmal nicht im Versagen, moralische Werte zu sehen, sondern in der Tatsache, dass man in jenen, die man ungerecht behandelt, keine vollwertigen Menschen sieht. Dann ist da freilich noch das Problem, dass sich der Mensch auch inkonsistent verhält. Wenn Sie fragen: „Glaubten diese Menschen wirklich an dieselben Werte wie ich?“ so wäre es für die Beantwortung dieser Frage gut, erst mal nicht auf ihr Handeln zu sehen, sondern auf ihre Reaktion, wenn man sie selbst auf diese Weise behandelt! Die Welt ist nicht so stark im Relativismus versunken, wie Sie annehmen.

(Übers.: I. Carobbio)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/how-can-people-be-so-morally-obtuse

[1]

Wie W.L. Craig an anderer Stelle sagt (z.B. Q&A 293, siehe http://www.reasonablefaith.org/warrant-for-the-moral-arguments-second-premiss, deutsch http://www.reasonablefaith.org/german/qa293), liegt die Rechtfertigung für Prämisse 2 ("Es gibt objektive moralische Werte und Pflichten") darin, dass moralische Empfindungen berechtigterweise basal sind.Berechtigterweise basale Überzeugungen sind solche, für die man keine Gründe braucht, und sie trotzdem rationalerweise für wahr halten kann. Z.B. ist es rational, an die Existenz einer Außenwelt zu glauben, auch wenn man dies nicht beweisen kann. Jeder Versuch, die Existenz der Außenwelt zu beweisen, wäre zirkulär, da der Beweis wieder auf Sinneswahrnehmungen basieren würde, bei denen man die Existenz der Außenwelt einfach unterstellen müsste.

Ebenso ist es rational, an die prinzipielle Zuverlässigkeit unserer Sinneswahrnehmungen zu glauben (z.B. "Ich sehe da vorne ein Auto fahren"), ohne dass man diese jeweils nachweisen müsste.

Berechtigterweise basale Überzeugungen können auch widerlegt werden. Aber in Abwesenheit eines Gegengrundes ist es rational, an ihnen festzuhalten.

In gleicher Weise können bestimmte moralische Urteile berechtigterweise basal sein. Die Wahrheit des Satzes "Das Foltern von Unschuldigen ist böse" kann man unmittelbar einsehen. Man braucht keine weiteren Begründungen (z.B. Studien, die negative Folgen einer Folter aufweisen etc.).

(Anm. d. L.)

– William Lane Craig

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