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#580 Hatte Saulus einen Kompensationskomplex?

#580 Hatte Saulus einen Kompensationskomplex?

February 10, 2019

F

Sehr geehrter Prof. Craig,

in Ihrem neuesten Defenders-Video kritisieren Sie Lüdemanns Halluzinationshypothese. Ich stimme Ihnen darin zu, dass sie nicht annähernd alle Daten erklärt, doch da ich gerade Psychologie studiere, interessiere ich mich für einen ganz bestimmten Teil der Hypothese. Sie beruht auf der Annahme, dass Saulus enorme Schuldgefühle hatte und dachte, er könnte Gottes Anforderungen nicht genügen. Sie sagen, das ist an den Haaren herbeigezogen, weil es keine Anhaltspunkte dafür gebe; ja, vielmehr gebe es Anhaltspunkte dafür, dass er zufrieden und selbstbewusst in Bezug auf seinen praktizierten jüdischen Glauben war (siehe Philipper 3,6). Ich frage mich bloß, warum Kompensationskomplexe, einer der Verteidigungsmechanismen nach Freud, nicht in Erwägung gezogen wurden? Es überrascht mich, dass Lüdemann sich in seiner Psychoanalyse auf Halluzinationen beruft – die ja nicht einmal ein Verteidigungsmechanismus sind –, Kompensationskomplexe aber gar nicht anspricht. Es scheint doch, dass sein Argument davon wirklich profitieren würde. Beim Konzept der Kompensation geht es darum, dass jemand, weil er sich in irgendeiner Weise unzureichend fühlt, extrem hart arbeitet und sich über alle Maßen bei einer Aufgabe bemüht, um sich selbst zu beruhigen. (Beispiel: Ich habe den Eindruck, ich bin dumm, daher verbringe ich jeden freien Moment damit, zu lernen, um sicherzugehen, dass ich gute Noten bekomme, und mich von diesem Eindruck zu befreien/abzulenken.) Das würde wunderbar auf Paulus zutreffen. Dann wären auch all die Belege dafür, dass er so hart gearbeitet hat und so ein toller Jude war, Belege für Lüdemanns Position und nicht dagegen. Ich denke nicht, dass das all die anderen Probleme mit der Hypothese löst, und natürlich ist Freuds Theorie auch umstritten, und die Psychoanalyse historischer Personen scheint tatsächlich sehr unzuverlässig zu sein. Dennoch frage ich, warum das gar nicht erwähnt wurde. Spricht Lüdemann das wirklich nicht an oder war die Zeit im Defenders-Unterricht zu kurz? Vielleicht weiß er auch gar nicht, worüber er spricht – schließlich ist er kein ausgebildeter Psychologe (geschweige denn ausgebildeter Psychoanalytiker)?

Danke.

AmandaAustralien

Australia

Prof. Craigs Antwort

A

Wie Sie richtig anmerken, sind Lüdemann und ich keine ausgebildeten Psychologen, und daher denke ich, dass er als Laie das genau das beschreibt, was Sie als „Kompensation“ bezeichnen. Seiner Ansicht nach war der Eifer, mit dem Saulus von Tarsus die frisch geborene Gemeinde verfolgt hat, die Kompensation dafür, dass er sich nicht in der Lage sah, dem jüdischen Gesetz zu genügen. Lüdemann fügt dieser Hypothese die Annahme hinzu, dass Saulus unbewusst vom Christentum angezogen wurde. Da er nicht im Stande war, seine Unzulänglichkeit zu kompensieren – nicht einmal durch die Verfolgung der Gemeinde – führte Saulus’ schuldgeplagtes Gewissen schließlich dazu, dass er Christus in einer Vision sah, wodurch er zum christlichen Glauben fand, der ihn aufatmen ließ.

Lüdemanns Ansicht ist an mindestens zwei Stellen verwundbar: Zunächst einmal wäre da seine Halluzinationshypothese. In meiner Debatte mit Lüdemann (herausgegeben als Jesus’s Resurrection: Fact or Figment) präsentiere ich mehrere Gründe dafür, dass die plausibelste Erklärung Paulus‘ Erfahrung nicht die der Halluzination ist.

Zweitens wäre da die „Kompensationshypothese“. Paulus‘ Eifer darin, das Christentum zu fördern, ist kein Beleg für diese Hypothese, denn der vorchristliche Saulus soll ja kompensiert haben, und Paulus‘ Eifer als Christ kann durch seine alles verändernde Bekehrung erklärt werden. Was Lüdemann braucht und versucht zu liefern, sind Belege dass der vorchristliche Saulus sich des Verteidigungsmechanismus der Kompensation bediente. Doch wie ich im oben genannten Buch erkläre, gibt es bei Saulus keine Belege für derlei Gefühle der Unzulänglichkeit. Ganz im Gegenteil: Die Belege, die wir haben, besagen, dass Saulus selbstbewusst mit seinem Leben als Jude umgegangen ist und zufrieden damit war. Wer Lüdemanns Kompensationshypothese vertritt, hat also eine Mammutaufgabe vor sich.

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/was-saul-of-tarsus-compensating

– William Lane Craig

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