#373 Wen interessiert es, wer die Evangelien geschrieben hat?
November 10, 2016
F
Sehr geehrter Herr Prof. Craig,
ich bin Atheist und finde, dass Sie die christliche Religion sehr geradlinig und vernünftig verteidigen. Sie haben viele der Positionen von Prof. Bart Ehrman zur Textkritik der Bibel angesprochen, aber die Hauptthese seines Buches, in welchem es um Fälschungen geht, haben Sie nicht behandelt. Woher wollen wir wissen, dass die Evangelien tatsächlich von den in den heutigen Bibelausgaben genannten Verfassern geschrieben wurden? Die Titel waren spätere Hinzufügungen, und wenn man die anderen Bücher des Neuen Testaments liest, findet man als häufiges Thema, dass es viele falsche Lehrer gibt, die Irrlehren verbreiten. Kurz: Gibt es solide Belege dafür, dass die Evangelien die angegebenen Verfasser haben, und was sind diese Belege?
Mit freundlichem Gruß,
J.C.
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Ich habe mir für diese Woche Ihre Frage herausgesucht, J.C., aber eigentlich werde ich sie nicht beantworten. Manchmal ist es wichtiger, dem Fragenden zu erklären, dass er die falsche Frage stellt, als ihm seine Frage zu beantworten. Indem wir ihm helfen, zu sehen, was die wirklich wichtigen Fragen sind, können wir Ablenkungen und Sackgassen vermeiden.
Ihre Frage ist von dieser Sorte. Hinter ihr scheint mir die Annahme zu stehen, dass wir, um die neutestamentlichen Texte als glaubwürdige historische Quellen für das Leben Jesu anerkennen zu können, genau wissen müssen, wer ihre Verfasser waren. Diese Annahme geht an der heutigen Praxis der historischen Kritik des Neuen Testaments vorbei. Ich habe Zweifel, dass es in der Forschung nach dem historischen Jesus Leute gibt, die glauben, dass die erfolgreiche Identifizierung der Autoren der verschiedenen in das Neue Testament eingegangenen Texte darüber entscheidet, ob sie glaubwürdige historische Quellen für das Leben und die Reden Jesu sind.
Ich habe den Eindruck, dass Sie Bart Ehrman gründlich missverstanden haben, wenn Sie glauben, dass es ihm vor allem darum gehe, dass die Evangelien nicht von den ihnen traditionell zugeschriebenen Autoren verfasst wurden. (J.C., ein weiteres Missverständnis bei Ihnen zeigt sich in Ihrem Gebrauch des Wortes „Fälschungen“ für die Zweifel bezüglich der Frage, wer die Evangelien verfasst hat. Wenn, wie Sie selber betonen, die Evangelien ursprünglich keine Verfasserangaben hatten, dann können sie ja gar keine Fälschungen sein, weil sie nicht beanspruchen, von bestimmten Autoren geschrieben zu sein! Ihre Bedenken gehen eigentlich dahin, dass die Evangelien anonym verfasst sind und erst nachträglich mit den Namen Matthäus, Markus usw. verbunden wurden.) Ehrman erkennt an, dass wir den vier Evangelien viele historische Informationen über Jesus entnehmen können (dazu kommen noch die Briefe des Paulus), auch wenn wir nicht wissen, wer sie verfasste. Bis vor kurzem hat Ehrman trotz seiner Zweifel über die Verfasser der Evangelien die Historizität der zentralen Fakten hinter dem Zeugnis von der Auferstehung Jesu – sein Begräbnis durch Josef von Arimathäa, die Entdeckung des leeren Grabes durch mehrere Jüngerinnen, die Erscheinungen des Auferstandenen und dass die Jünger zu der Überzeugung kamen, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hatte – akzeptiert. Dass er zu einigen dieser Fakten seine Meinung geändert hat, beruht nicht auf seinen Zweifeln bezüglich der Evangelienverfasser, sondern auf anderen Faktoren.
Ich persönlich finde das Problem der Datierung und der Verfasser der neutestamentlichen Texte extrem interessant, sodass mir diese Fragen nicht egal sind. (Der Titel meiner Frage der Woche ist bewusst provokativ gewählt!) Aber die Antworten auf diese Fragen sind für die Beurteilung der Zuverlässigkeit dieser Texte nicht entscheidend. Dies führte übrigens zu einem Disput zwischen mir und den Lektoren bei Crossway Books, als es um die zweite Auflage meines Buches Reasonable Faith ging. Sie wollten unbedingt, dass ich das Buch um ein Kapitel über die allgemeine Zuverlässigkeit der vier Evangelien ergänzte. Ich hielt dagegen, dass mein Plädoyer für das radikale Selbstverständnis Jesu und die Historizität seiner Auferstehung nicht von der allgemeinen Verlässlichkeit dieser Dokumente abhing. Doch die Crossway-Leute ließen nicht locker, sodass ich den Neutestamentler Craig Blomberg bat, das gewünschte Kapitel zu schreiben, obwohl es den Fluss meiner Argumentation störte. Sie werden gemerkt haben, dass ich mich schließlich durchsetzte, denn in der dritten Auflage gibt es dieses Kapitel nicht mehr. Aber wenn Sie sich echt für Fragen der Verfasserschaft und allgemeinen Zuverlässigkeit der Evangelien interessieren, kann ich Ihnen das Kapitel von Blomberg nur empfehlen.
Wenn den Forschern über den historischen Jesus also Fragen der Verfasserschaft der Texte nicht übermäßig wichtig sind, wie identifizieren sie dann die historischen Elemente in den Evangelien? Eine Methode sind die sogenannten „Authentizitätskriterien“. Diese Kriterien sind Aussagen darüber, was bestimmte Indizien für die Wahrscheinlichkeit bestimmter Aussprüche oder Ereignisse aus dem Leben Jesu bedeuten. Angenommen, wir verwenden folgende Abkürzungen:
W= Wahrscheinlichkeit
E = ein schriftlich überlieferter Ausspruch oder Ereignis
I = Indizien
H = unsere Hintergrundinformation.
Wenn die übrigen Bedingungen gleich sind, gilt dann:
W (E / I & H) > W (E / H). [1]
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis bzw. ein Ausspruch stattgefunden hat, ist z.B. größer, wenn dieses Ereignis bzw. dieser Ausspruch mehrfach bezeugt ist und nicht nur ein Mal. [2]
Was für Faktoren sind es, die in dieser Gleichung die Rolle von I spielen und die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bzw. Ausspruchs E erhöhen? Hier einige der wichtigsten:
Historische Kongruenz: E „passt“ zu bekannten historischen Tatsachen, die den Kontext, in welchem E sich ereignet haben soll, betreffen.
Unabhängige, frühe Bezeugung: E erscheint in mehreren Quellen, die zeitnah zu dem Zeitpunkt, an dem E geschehen sein soll, verfasst wurden und die weder voneinander noch von einer gemeinsamen anderen Quelle abhängen.
Kriterium der Beschämung: E ist für die Personen, die als Gewährspersonen für E gelten, beschämend oder kontraproduktiv.
Unterschiedlichkeit: E unterscheidet sich von früheren jüdischen und/oder späteren christlichen Denkformen.
Semitismen: Die Sprache des Textes weist aramäische bzw. hebräische Spuren auf.
Kohärenz: E „passt“ zu bereits bekannten Fakten über Jesus.
Man beachte, dass diese „Authentizitätskriterien“ nicht die traditionellen Verfasser der Evangelien oder auch nur die allgemeine Verlässlichkeit der Evangelien voraussetzen. Sie nehmen vielmehr ein bestimmtes Zitat oder Ereignis aus dem Leben Jesu und liefern Indizien für seine Historizität, völlig unabhängig von der Frage der grundsätzlichen Vertrauenswürdigkeit des Schriftdokuments, in dem es sich befindet. Sie lassen sich damit nicht nur auf die Texte in den biblischen Evangelien anwenden, sondern auch auf die apokryphen Evangelien, die rabbinischen Schriften, ja sogar den Koran. Wenn man natürlich nachweisen kann, dass die Evangelien von ihren traditionell genannten Verfassern stammen oder allgemein verlässlich sind – umso besser! Aber die Authentizitätskriterien hängen nicht von dergleichen Dingen ab, sondern sind einfach Hilfen zur Trennung des historischen Weizens von der Spreu.
Weiter: Eine der wichtigsten Entwicklungen in der Erforschung des Neuen Testaments ist die Ermittlung der historischen Quellen, die hinter den neutestamentlichen Texten stehen. Eines der eindrücklichsten Beispiele ist die Bekenntnisformel über den Tod und die Auferstehung Christi, die Paulus in seinem 1. Brief an die Gemeinde, die er selber in Korinth gegründet hatte, zitiert:
"Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. " (1. Korinther 15,3–5, Lutherbibel 1984)
Diese Zeilen sind voll von Semitismen und nichtpaulinischen Merkmalen, woraus die Gelehrten schließen, dass Paulus hier nicht selber formuliert, sondern eine Tradition weitergibt, die er übernommen hat und die fast alle Gelehrten in die ersten paar Jahre nach der Kreuzigung Jesu datieren. Die Datierung und Verfasserschaft des 1. Korintherbriefes (die aber außer Frage stehen) spielen hierbei eine untergeordnete Rolle; wichtig ist, dass wir hier eine außergewöhnlich frühe Quelle über das Leiden und die Auferstehung Jesu Christi vor uns haben.
Laien, die die historische Methode nicht verstehen, verlangen manchmal Quellen für das Leben Jesu, die außerhalb des Neuen Testaments liegen – gerade so, als ob die nachträgliche Aufnahme eines Dokuments in eine Textsammlung ihre historische Glaubwürdigkeit beschädigen würde. Seis’s drum. Wir wissen heute, dass es solche Quellen außerhalb des Neuen Testaments tatsächlich gibt, aber dass die wichtigsten nicht jene sind, die nach den neutestamentlichen Texten datieren (wie die Zeugnisse des Josephus oder Tacitus), sondern die, die vor diesen Texten entstanden und dann von den Verfassern des Neuen Testaments benutzt wurden.
Und schließlich sind, recht betrachtet, die Namen der Verfasser der Evangelien eigentlich ohne Belang. Worauf es ankommt, ist, dass der Verfasser – ob er nun Lukas oder Josua oder Herkimer oder wie auch immer hieß – in der Lage war, historisch zuverlässige Informationen über den historischen Jesus zu geben. Nehmen wir als Beispiel Lukas, der traditionell als Verfasser eines Doppelwerkes gilt: des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte. Die beiden Texte sind eigentlich ein Dokument und erscheinen in unseren Bibeln nur deswegen separat, weil die Kirche später die Evangelien zu einer Textgruppe zusammenfasste. Lukas ist unter den Evangelienverfassern derjenige, der seine Funktion als Historiker am stärksten thematisiert. In der Einleitung zu seinem Doppelwerk schreibt er:
"Schon viele haben die Aufgabe in Angriff genommen, einen Bericht über die Dinge abzufassen, die in unserer Mitte geschehen sind und die wir von denen erfahren haben, die von Anfang an als Augenzeugen dabei waren und dann Diener der Botschaft Gottes geworden sind. Darum hielt auch ich es für richtig, nachdem ich allem bis zu den Anfängen sorgfältig nachgegangen bin, diese Ereignisse für dich, hochverehrter Theophilus, in geordneter Reihenfolge niederzuschreiben, damit du erkennst, wie zuverlässig all das ist, worin du unterrichtet worden bist." (Lukas 1,1–4 NGÜ)
Diese Einleitung ist im Stil des klassischen Griechisch verfasst, wie es damals von griechischen Historikern benutzt wurde. Danach geht Lukas zu einem alltagssprachlicheren Griechisch über, aber er hat seinen Lesern bewiesen, dass er, so er dies will, wie ein gelehrter Historiker schreiben kann. Er sagt, dass er die Geschichte, die er gleich erzählen wird, eingehend recherchiert hat, und versichert uns, dass sie auf Augenzeugenberichten basiert und entsprechend glaubwürdig ist.
Wer war dieser Autor, den wir Lukas nennen? Nach seinen eigenen Angaben eindeutig nicht selber ein Augenzeuge des Lebens Jesu. Aber in der Apostelgeschichte entdecken wir ein wichtiges Detail über ihn. Im 16. Kapitel wechselt der Bericht abrupt sprachlich in die Wir-Form: „Da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen“, „Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake“, „Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt“ etc. (Zitate nach Lutherübersetzung). Die nahe liegende Erklärung ist, dass der Autor sich Paulus auf dessen Missionsreise zu den Städten des Mittelmeers angeschlossen hatte. In Kapitel 21 begleitet er Paulus zurück nach Jerusalem. Was bedeutet dies? Dass der Verfasser des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte in Jerusalem Augenzeugen des Lebens und Wirkens Jesu persönlich kennengelernt hat.
Skeptiker haben mit allen Tricks versucht, diesem Befund auszuweichen. Sie haben z.B. behauptet, die Benutzung der 1. Person Plural sei nicht wörtlich zu nehmen; es handele sich um ein literarisches Stilmittel, das in antiken Berichten über Seereisen üblich war. Lassen wir hier einmal die Tatsache, dass der Großteil von Paulus‘ Reisen zu Lande stattfand, beiseite; das behauptete Stilmittel, Seereisen grundsätzlich in der 1. Person Plural zu erzählen, hat es schlicht nie gegeben, sondern es hat sich als Hirngespinst entpuppt. Es gibt keinen Grund, nicht zu glauben, dass das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte von einem Reisebegleiter des Paulus verfasst sind, der während seines Besuches in Jerusalem Gelegenheit hatte, Augenzeugen des Lebens Jesu zu interviewen.
Wer waren diese Augenzeugen? Wir kommen ihnen vielleicht auf die Spur, wenn wir im Lukasevangelium das Material, das sich auch in den anderen Evangelien findet, beiseitelassen und uns auf das konzentrieren, was wir speziell bei Lukas finden. Wir sehen dann, dass viele der Berichte des Lukas mit Frauen zu tun haben, die Jesus nachfolgten – z.B. Johanna und Susanna und nicht zuletzt Maria, Jesu Mutter.
Hat der Autor die Fakten korrekt wiedergegeben? Diese Frage können wir aufgrund der Apostelgeschichte mit einem klaren Ja beantworten, denn sie zeigt starke Überlappungen mit der damaligen säkularen Geschichte; die historische Genauigkeit der Apostelgeschichte ist unbestreitbar. Dies wurde vor nicht allzu langer Zeit erneut von dem Altphilologen und Neutestamentler Colin Hemer aufgezeigt, in seinem Buch The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1989). Hemer geht mit einem feinen Kamm durch die Apostelgeschichte und fördert eine Unmenge historischer Details zutage, von Dingen, die damals allgemein bekannt waren, bis zu Details, die nur der Insider vor Ort wissen konnte. Immer wieder erweist sich Lukas als Kenner seiner Materie, von den Segelzeiten der alexandrinischen Kornschiffe über die Küstentopografie der Inseln bis hin zu den Titeln örtlicher Beamter, die damals eine Wissenschaft für sich waren.
Der Althistoriker A.N. Sherwin-White konstatiert: „Die Belege für die Historizität der Apostelgeschichte sind überwältigend. Jeder Versuch, selbst bei den Details ihre grundsätzliche Historizität zu verneinen, muss heute absurd erscheinen.“ [3] Das Urteil des weltberühmten britischen Archäologen Sir William M. Ramsey gilt nach wie vor: „Lukas ist ein Historiker ersten Ranges. … Dieser Autor hat einen Platz in der Reihe der größten Historiker verdient.“ [4] Bedenkt man, wie nachweislich sorgfältig und zuverlässig der Autor des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte recherchiert hat und dass er Kontakt zu Augenzeugen der ersten Generation nach dem Tod und der Auferstehung Jesu hatte, dann können wir ihm vertrauen, wenn es um Dinge im Leben Jesu geht, für die wir keine Bestätigung aus anderer Quelle haben.
Dieser letzte Punkt zeigt, dass es hilfreich sein kann, etwas über die Autoren der Evangelien zu wissen. Aber, wie oben gesagt: Das Wichtigste ist es nicht.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/gospel-authorship-who-cares
[1]
W (E/I&H) > W(E/H) ist so zu lesen: Die Wahrscheinlichkeit W eines Ereignisses E angesichts bestimmter Indizien I und unserer Hintergrundinformationen H ist größer als die Wahrscheinlichkeit W dieses Ereignisses E, wenn man nur die Hintergrundinformationen hat. D.h. die Indizien vergrößern die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ereignis stattgefunden hat. (Anm. d. Übers.)
[2]
Wenn eine Person sagt, dass in der Innenstadt heute eine Gasexplosion stattgefunden hat, so hat man – durch diesen Bericht – ein Indiz dafür, dass diese Explosion tatsächlich stattgefunden hat. Wenn weitere Personen das gleiche Ereignis bezeugen, so hat man weitere Indizien, dass es sich ereignet hat. (Anm. d. Übers.)
[3]
A.N. Sherwin-White, Roman Society and Roman Law in the New Testament (Oxford: Clarendon Press, 1963), S. 189.
[4]
William M. Ramsay, The Bearing of Recent Discovery on the Trustworthiness of the New Testament (London: Hodder & Stoughton, 1915), S. 222.
– William Lane Craig