#388 Befindet sich der Theist in einem Dilemma, wenn er behauptet,
November 10, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
Zunächst einmal: Obwohl ich Atheist bin, habe ich durch die Lektüre Ihrer Antworten in den Q&As sowie durch das Anschauen Ihrer Streitgespräche einiges gelernt. Auch wenn Ihre Ansichten manchmal meinen Blutdruck gefährlich ansteigen lassen, gibt es verschiedene Punkte, wo ich mit Ihnen einer Meinung bin. Einer davon ist Ihre nominalistische (oder antirealistische) Position gegenüber abstrakten Gegenständen, die Sie vor kurzem darlegten (Q#325). Bei meiner Frage geht es um die Implikationen Ihrer nominalistischen Sicht, die Sie meiner Meinung nach in gewisse Schwierigkeiten bezüglich Ihrer Ontologie der Schönheit und vielleicht auch Ihrer moralischen Ontologie bringt.
Bei Ihrer Wiederlegung des Szientismus argumentieren Sie, dass es Wahrheiten gibt, die jenseits des Bereichs der Wissenschaft liegen und dass zu diesen auch ästhetische Wahrheiten gehören. Dieser Glaube scheint mir platonische Implikationen zu haben. Sie sagen dies indirekt selber, wenn Sie in Ihrer ersten Debatte mit Peter Atkins auf dessen Szientismus mit der Bemerkung reagieren, dass „‚das Schöne‘ wie ‚das Gute‘ sich der wissenschaftlichen Nachweisbarkeit entziehen.“ Damit legen Sie sich ontologisch explizit darauf fest, dass das Schöne etwas ist, das außerhalb unserer Wahrnehmung existiert. Ich sehe nicht, wie diese Sicht des Schönen etwas anderes als platonisch sein soll.
Ich glaube, Sie sehen jetzt, worum es mir geht. Wie können Sie Ihren Nominalismus mit Ihrem platonischen Schönheitsverständnis unter einen Hut bringen? Sie können nicht bei den einen Eigenschaften ein Nominalist sein und dort, wo es um Eigenschaften geht, die Sie objektiv existent haben wollen, auf einmal ein Realist; das wäre Rosinenpickerei. Jedes Argument, das Sie gegen den Glauben an die reale Existenz von Eigenschaften oder Zahlen bringen, ist genauso gut auf die Existenz des abstrakten Objektes der Schönheit anwendbar. Und weiter: Wie können Sie Schönheit platonisch sehen, wenn doch eines Ihrer Motive für die Übernahme der nominalistischen Position Ihr Glaube ist, dass der Platonismus mit dem klassischen Theismus unvereinbar ist? Ist Schönheit eine Eigenschaft Gottes? Wie kann das sein, wenn Gott nichtmateriell ist?
Dieser Zwiespalt zwischen Nominalismus und einer platonischen Sicht von der Schönheit hängt mit Ihrer moralischen Ontologie zusammen. Sie haben Ihre Position zur Basis der moralischen Werte sehr klar gemacht: Gottes Wesen ist „das Gute“. Das Problem ist nur: Wenn Sie ein Antirealist sind und leugnen, dass ästhetische Wahrheiten objektiv existieren, dann wird es viel plausibler, dass auch moralische Aussagen nicht objektiv wahr sind. Die Intuition, die mir sagt, dass ein Mann, der schielt und eine krumme Nase und Unmengen von Pickeln hat, objektiv ein hässlicher Mann ist, ist genauso stark wie die Intuition, die mir sagt, dass es objektiv verwerflich ist, wenn jemand stiehlt, weil ihm das Spaß macht. Es gibt keinen Grund dafür, Ihren Antirealismus nicht auch auf moralische Wahrheiten anzuwenden. Aber dies untergräbt, wie Ihnen sicher bewusst ist, die zweite Prämisse Ihres Moral-Arguments für die Existenz Gottes: dass objektive moralische Werte existieren [1].
Ich habe den Eindruck, dass Sie hier in einem Dilemma stecken. Wenn Sie die Objektivität ästhetischer Aussagen verneinen, graben Sie damit gleichzeitig dem Glauben an die Objektivität moralischer Aussagen das Wasser ab. Bejahen Sie aber die ästhetische Objektivität, landen Sie sofort beim Platonismus, der doch, wie Sie schreiben, mit dem klassischen Theismus unvereinbar ist. Sehen Sie einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Für eine Antwort wäre ich sehr dankbar. Ich hoffe, Sie eines Tages treffen und mit Ihnen über Themen reden zu können, die uns beide faszinieren.
Victor
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Ich glaube, Victor, das scheinbare Dilemma ergibt sich aus der Vermischung zweier verschiedener Bedeutungen, in denen in den gegenwärtigen Diskussionen das Wort „Realismus“ benutzt wird. Bei manchen Philosophen, z.B. Michael Dummett, ist „Realismus“ eine Art Wahrheitsrealismus (bzw. alethischer Realismus), bei welchem Aussagen in bestimmten Diskursbereichen (z.B. im mathematischen oder im moralischen Diskurs) objektive Wahrheitswerte haben, d.h. objektiv entweder wahr oder falsch sind. Dies ist etwas ganz anderes als der, wie man ihn nennen könnte, ontologische Realismus, für den Objekte einer bestimmten Art – z.B. Zahlen oder Eigenschaften – real existieren. Der ontologische Antirealist muss nicht unbedingt ein alethischer Antirealist sein; man kann z.B. durchaus verneinen, dass mathematische Objekte „existieren“, und doch davon ausgehen, dass mathematische Aussagen objektiv wahr oder falsch sind. Ich wage einmal die Behauptung, dass die meisten ontologischen Antirealisten alethische Realisten sind.
Meine eigene Position ist die, dass Aussagen im moralischen, ästhetischen und mathematischen Diskurs objektiv wahr oder falsch sind, obwohl es keine abstrakten Objekte wie Zahlen und moralische oder ästhetische Eigenschaften gibt. So ist es z.B. wahr, dass 1 + 1 2 ergibt, obwohl es kein durch „1+1“ bezeichnetes abstraktes Objekt gibt. Ähnlich ist der Satz „Hannahs Gesicht ist schön“ wahr, obwohl es kein abstraktes Objekt gibt, das mit der Eigenschaft schön identisch wäre. (Ich würde sogar Hannahs Gesicht nicht in mein ontologisches Inventar aufnehmen; Hannah existiert zwar, aber gibt es ein separates Objekt, das das Referenzobjekt von „ihr Gesicht“ ist?) Und es ist wahr, dass die Aktionen der ISIS „grausam“ sind, obwohl es kein abstraktes Objekt namens Grausamkeit gibt. Wir brauchen in unserer Ontologie keine solchen merkwürdigen, kausal entleerten, abstrakten Entitäten, um bezüglich des Wahrheitswertes solcher Aussagen Realisten zu sein.
Aber nun deuten Sie ein Argument an, dass der alethische Realismus den ontologischen Realismus impliziere. Sie behaupten, indem ich sage, dass „‚das Schöne‘ wie ‚das Gute‘ sich der wissenschaftlichen Nachweisbarkeit entzieht“, lege ich mich „ontologisch explizit darauf fest, dass das Schöne etwas ist, das außerhalb unserer Wahrnehmung existiert.“ Was tun Sie hier? Sie setzen eine ganz bestimmte Sicht davon voraus, wie wir uns durch unseren Sprachgebrauch auf die ontologische Existenz von Gegenständen festlegen. Sie gehen davon aus, dass Aussagen, die sogenannte singuläre Begriffe enthalten (d.h. Wörter, die individuelle Personen oder Gegenstände bezeichnen), wie z.B. Eigennamen, definite Beschreibungen [2] und Demonstrativpronomen wie „dieses“ oder „jenes“, nur wahr sein können, wenn es in der Welt Objekte gibt, die als Denotate bzw. Referenten dieser Begriffe dienen.
Das sehe ich völlig anders! Es scheint mir ein Faktum der Alltagssprache zu sein, dass wir oft wahre Aussagen machen, die singuläre Begriffe enthalten, die keine real existierenden Objekte bezeichnen. Nehmen wir die folgenden Beispiele:
· Das Wetter in Atlanta wird heute heiß sein.
· Sherries Enttäuschung über ihren Mann war tief und nicht zu beschwichtigen.
· Der Preis der Fahrkarten ist zehn Dollar.
· Der Mittwoch liegt zwischen dem Dienstag und dem Donnerstag.
· Seine Aufrichtigkeit konnte einen rühren.
· James hat seine Hypothek nicht abbezahlen können.
· Der Blick vom Gipfel des Bergs Karmel auf die Jesreel-Ebene war atemberaubend.
· Dein dauerndes Jammern bringt dir nichts.
· Mit Spasskys Aufgeben endete die Partie.
· Er hat das zu meinem Wohl und zum Wohl der Kinder getan.
Es wäre absurd zu glauben, dass es zu sämtlichen in diesen Sätzen vorkommenden singulären Begriffen („Wetter“, „Enttäuschung“, „Preis“, „Mittwoch“ etc.) auch Objekte in der Welt gibt, die diesen entsprechen. Ich glaube, Sie werden mir hier zustimmen. Aber nach Ihrem ontologischen Kriterium wären Sie gezwungen, zu sagen, dass alle diese Sätze falsch sind, was ebenso absurd wäre.
Was wir hier brauchen, Victor, ist eine Referenztheorie [3], die es uns erlaubt, zu sagen, dass eine erfolgreiche Referenz auch dann möglich ist, wenn es in der realen Welt kein Objekt gibt, das das Denotatum (oder der Referent) zu dem von uns benutzten Begriff ist. In meinen Publikationen über Gott und abstrakte Objekte verteidige ich genau solch eine Referenztheorie (sie wurde von dem schwedischen Philosophen Arvid Båve formuliert). Dies ist nicht der Ort, diese Theorie darzustellen; ich verweise Sie hier auf meinen Beitrag in: Paul Gould (ed.), Beyond the Control of God? Six Views on the Problem of God and Abstract Objects (London: Bloomsbury, 2014).
Also: Wie vereinbare ich meinen ontologischen Antirealismus mit meinem alethischen Realismus im moralischen und ästhetischen Diskurs? Definitiv nicht, indem ich frei nach Gusto die einen Eigenschaften als real betrachte und die anderen nicht, sondern indem ich das von Ihnen vorausgesetzte Kriterium der ontologischen Festlegung, das uns solch eine inflationäre Ontologie [4] einbringen würde, ablehne.
Es gibt hier mithin kein Dilemma, aus dem wir einen Ausweg suchen müssten.
(Übers.: Dr. F. Lux)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/is-the-theistic-anti-realist-in-a-predicament
[1]
Das Moral-Argument lautet in der Formulierung von W.L. Craig wie folgt:
P1: Wenn es keinen Gott gibt, gibt es keine objektiv gültigen Werte und Pflichten.
P2: Es gibt aber objektiv gültige Werte und Pflichten.
K: Daher gibt es einen Gott.
(Anm. d. Übers.)
[2]
Ein Eigenname ist z.B. "Martin Luther", eine definite Beschreibung ist z.B. "der protestantische Reformator, der 1483 in Eisleben geboren wurde, 1505 Mönch bei den Augustiner-Eremiten wurde, 1517 95 Thesen u.a. gegen den Ablass verfasste und 1521 vor dem Reichstag zu Worms stand". (Anm. d. Übers.)
[3]
Eine Referenztheorie ist eine Theorie darüber, wie sich sprachliche Ausdrücke auf Objekte in der Welt beziehen. (Anm. d. Übers.)
[4]
Zur Erläuterung: Mit "inflationäre Ontologie" ist gemeint, dass ein Realist (bezüglich abstrakter Objekte) behauptet, dass abstrakte Objekte (wie Zahlen, Propositionen, Mengen etc.) wirklich existieren, während der Antirealist sagt, dass sie keine eigene Existenz als Objekte haben. Da es unendlich viele Zahlen, Mengen etc. gibt, gibt es in der Ontologie des Realisten unvergleichlich viel mehr real existierende Objekte als in der Ontologie des Antirealisten, insofern ist sie "inflationär". (Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig