#410 Inkarnation und Allwissenheit
November 01, 2016
F
Sehr geehrter Prof. Craig,
ich kann Ihnen gar nicht genug danken für all Ihre unglaubliche Arbeit. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern oder nicht, aber letztes Jahr waren Sie mit Pastor Matt von der Solace [1]-Kirche in Berryhill, Oklahoma, unterwegs, und er hat damals von mir gesprochen. Ich bin jener 15- (damals 14-) Jährige, der immer so viele Fragen stellte. Durch Ihre Arbeit wurde ich mit der Möglichkeit gesegnet, zwei meiner Klassenkameraden aus Kl. 9 (einen Agnostiker zwischen Hinduismus und christlichem Glauben und einen mit einer ungewöhnlichen Mischung aus Postmodernismus, Pluralismus und einer christlich beeinflussten Version der keltischen Mythologie) im vergangenen Schuljahr zum christlichen Glauben sowie einen weiteren Mitschüler (einen Agnostiker) zum Theismus zu bekehren, alles in recht kurzer Zeit in ganz normaler Konversation mit etwas Taktik. Außerdem hatte ich die Gelegenheit, am zweiten Tag meines Politik-Debattierkurses aus dem Stegreif eine Rede zu halten, in der ich Argumente gegen den Postmodernismus vorbrachte, die mein Lehrer uns eigentlich im zweiten Semester beibringen wollte! Sie haben einen so großen Einfluss.
Aber ich schweife ab. Meine Frage betrifft das Inkarnationsmodell, das Sie und J.P. Moreland in „Philosophical Foundations for a Christian Worldview” vorstellen. Darin behaupten Sie, dass viele der göttlichen Attribute von Jesus in seinem Unterbewusstsein lokalisiert waren. Damit habe ich nun ein Problem. Maximale Größe scheint mir zu bedeuten, auf der Stelle Zugang zu jeder Art von Wissen und zum ganzen Wissen zu haben, was umgekehrt auch zu bedeuten scheint, dass Gott Allwissenheit in Seinem Bewusstsein hat, wo auf alles Wissen direkt zugegriffen werden kann. Können Sie mir das bitte erklären?
Meine Fragen lauten also:
Bedeutet maximale Größe nicht vor allem Allwissenheit im Bewusstsein, weniger im Unterbewusstsein?
Gibt es irgendwelche anderen stimmigen Inkarnationsmodelle, von denen Sie Kenntnis haben?
Haben Sie vor, in nächster Zeit wieder einmal zu einem Vortrag oder einer Debatte nach Oklahoma zu kommen?
Ihre Antwort bedeutet mir sehr viel. Ich glaube, dass die angebliche Inkohärenz der Inkarnation das intellektuell stärkste Argument gegen den christlichen Glauben ist. Wenn ich darauf eine Antwort habe, sind alle anderen Einwände nur ein laues Lüftchen. Vielen Dank für Ihre Antwort (falls Sie meinen Brief beantworten werden).
Hören Sie nicht auf, den Glauben zu verteidigen,
Dylan
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Vielen Dank für Ihre freundlichen Bemerkungen, Dylan!
Allwissenheit kann folgendermaßen definiert werden: Eine Person S ist genau dann allwissend, wenn S bei jeder Proposition (oder Aussage) p weiß, dass p gilt und nicht glaubt, dass nicht-p gilt. Da Allwissenheit eine grundlegende Eigenschaft Gottes ist, muss Jesus Christus allwissend sein, und er muss es auch während seines Aufenthalts auf der Erde (seines sogenannten Zustands der Erniedrigung) gewesen sein. Aber genauso, wie Sie und ich weit mehr wissen, als uns zu jeder beliebigen Zeit bewusst ist, so musste auch Christus sich nicht seines ganzen Wissens bewusst sein, um allwissend zu sein. Daher ist bei meinem vorgeschlagenen Modell viel von Jesu göttlichem Wissen während seines Erdenlebens unterbewusst.
Nun könnten Sie jedoch sagen, dass Sie und ich uns (normalerweise!) ins Bewusstsein rufen können, was wir wissen, sobald wir das wollen. Wenn Christus kognitiv maximal exzellent ist, dann muss auch er dazu in der Lage sein, sich sein Wissen ins Bewusstsein zu rufen, auch dann, wenn er während seines Aufenthalts auf der Erde freiwillig davon Abstand nimmt, das göttliche Unterbewusstsein abzurufen.
Mein Modell lässt diese Option offen. Es ist damit vereinbar, dass Christus auf sein unterbewusstes Wissen Zugriff gehabt haben könnte, wenn er das gewollt hätte, aber er tat es nicht und hatte daher ein authentisches menschliches Bewusstsein.
Um nun Ihre Fragen zu beanworten:
Bedeutet maximale Größe nicht vor allem Allwissenheit im Bewusstsein, weniger im Unterbewusstsein? Ich sehe keinen Grund für diese Annahme. Auch wenn maximale Größe bedeutet, „auf der Stelle Zugang zu jeder Art von Wissen und zum ganzen Wissen zu haben“, folgt daraus nicht, dass Christus sich all seines Wissens bewusst sein musste, sondern höchstens, dass er auf alles, was er wusste, hätte zugreifen können, wenn er gewollt hätte (lückenlose Erinnerung).
Gibt es irgendwelche anderen stimmigen Inkarnationsmodelle, von denen Sie Kenntnis haben? Momentan arbeite ich nicht in diesem Bereich und bin daher nicht vertraut mit den aktuellen Diskussionen. Mir gefällt jedoch sehr gut, was Thomas Morris in seinem hervorragenden Buch The Logic of God Incarnate [2] (Cornell University Press, 1986), das in diesem Bereich Pflichtlektüre bleibt, zu sagen hatte.
Haben Sie vor, in nächster Zeit wieder einmal zu einem Vortrag oder einer Debatte nach Oklahoma zu kommen? Nein, es ist noch nichts geplant, aber danke der Nachfrage!
(Übers.: J. Bothner)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/incarnation-and-omniscience
[1]
Engl. solace = dt. Trost
[2]
Siehe https://www.amazon.de/Logic-God-Incarnate-Thomas-Morris/dp/1579106293/ (Anm. d. Übers.)
– William Lane Craig